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Digital In Arbeit

„Könnte ich Bauer sein...“

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Das niederösterreichische Grenzland hat von der Hochkonjunktur weniger gespürt als die meisten innerösterreichischen Gebiete. Dafür fühlt es jetzt um so härter die Folgen der negativen wirtschaftlichen Entwicklung. Vom Waldviertel über das Weinviertel bis herunter nach Bruck an der Leitha sind Arbeitsplätze heute noch viel kostbarer als vor wenigen Jahren.

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Das niederösterreichische Grenzland hat von der Hochkonjunktur weniger gespürt als die meisten innerösterreichischen Gebiete. Dafür fühlt es jetzt um so härter die Folgen der negativen wirtschaftlichen Entwicklung. Vom Waldviertel über das Weinviertel bis herunter nach Bruck an der Leitha sind Arbeitsplätze heute noch viel kostbarer als vor wenigen Jahren.

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Das Leben des Engelbert Sch. ist typisch für das Leben vieler Menschen im niederösterreichischen Grenzland, die weiterkommen und die Zukunftschancen ihrer Kinder verbessern wollen.

Dreimal in der Woche bleiben ihm, wenn er von der Arbeit kommt, genau 45 Minuten, um sich zu waschen, umzuziehen und mit dem Wagen die rund 30 Kilometer von Großinzers-dorf zur Schnellbahnstation Gän-serndorf zurückzulegen. Von dort fahrt er „in die Schule“, zu einem Kurs, in dem er zum Werkmeister ausgebildet wird.

Der Betrieb, in dem er arbeitet, das Werk Zistersdorf der Otto Dürr Ges.m.b.H., schenkt ihm dreimal pro Woche eine halbe Stunde Arbeitszeit. Anders könnte er unmöglich rechtzeitig in Wien sein. Der Mann, der Werkmeister werden will, ist erst seit kurzem Facharbeiter. Er ist jetzt 40 Jahre alt. Bis. zu seinem 39. Lebensjahr war er angelernter Hilfsarbeiter.

Zu wenige Facharbeiter

Das Werk ist einer jener Betriebe, um deren Ansiedlung sich heute alle Regionen mit hohem Bedarf an Arbeitsplätzen von Irland bis Zistersdorf reißen. Der im Weinviertel errichtete Zweigbetrieb eines großen deutschen Unternehmens erzeugt Lackierstraßen, Anlagen zur Rostschutzbehandlung von Karosserien und dergleichen für die deutsche Autoindustrie. Die Zahl von rund 80 Arbeitsplätzen ist seit Jahren stabil. Stabile Arbeitsplätze sind das, was solche Regionen brauchen.

Vor diesem Hintergrund ist auch der Erfolg zu sehen, den Niederöster- ' reich vor wenigen Wochen beim Bund erzielen konnte. Das Land pumpt seit Jahren erhebliche Mittel in die Förderung neuer Arbeitsplätze im Grenzland. Von 1973 bis 1977 insgesamt 54 Millionen Schilling verlorene Zuschüsse. 89 Prozent davon flössen der Industrie zu, 11 Prozent Handel und Gewerbe, 38 Prozent der Elektro-, 20 Prozent der Bekleidungsindustrie.

Künftig wird jeder neugeschaffene Dauerarbeitsplatz im Grenzland, der mehr als 300.000 Schilling Investition erfordert, nicht mehr mit maximal 20.000, sondern mit 100.000 Schilling gefördert, die Land und Bund zu gleichen Teilen aufbringen. Diese Zuschüsse sind erstmals ein Rechtsanspruch. Dazu kommen die Verlängerung der ERP-Sonderaktion für Grenzlandbetriebe, eine Aufstok-kung der niederösterreichischen

Grenzlandförderungsgesellschaft, die Weiterführung des schon 1974 beschlossenen agrarischen Grenz-land-Sonderprogrammes mit jährlich 140 Millionen, und so weiter.

Trockene Zahlen ... Für Engelbert Sch. war der letzte Mittwoch ein besonders hektischer Tag. In Wien stand eine Physik-Schularbeit auf dem Programm, zu Hause Geburtshilfe, denn Engelbert Sch. ist Nebenerwerbsbauer. Um halb elf kam er heim, wie immer an den Kurstagen. Letzten Mittwoch mußte er sich mit dem Essen beeüen und dann gleich in den Stall, eine seiner Zuchtsauen erwartete Nachwuchs. Um halb drei Uhr früh kam er ins Bett, um fünf Uhr früh war er schon wieder mit Traktor und Anhänger unterwegs, um sieben an seinem Arbeitsplatz, und am Nachmittag wieder in Wien auf der Schulbank.

Niederösterreichs Grenzlandför-

derung beschränkt sich nicht auf verlorene Zuschüsse für neue Arbeitsplätze. Denn die Industriebetriebe, deren Ansiedlung man fördert, brauchen Facharbeiter. Und im Grenzland kommen auf hundert männliche Beschäftigte vielleicht 20, sicher nicht mehr als 25 Facharbeiter. Das ist weit unter dem innerösterreichischen Durchschnitt.

Daher helfen Fortbildungskurse für Erwachsene ohne berufliche Qualifikation nicht nur dem einzelnen, sondern auch dem Gebiet. Sie zählen zu den wirkungsvollsten Maßnahmen auf dem Sektor Arbeitsmarktförderung. Im niederösterreichischen Grenzland gibt es Ausbildungsstätten, die Erwachsenen eine

abgeschlossene Ausbildung vermitteln, in Sigmundsherberg (Metallberufe), in Echsenbach (Tischler, Zimmerer) und in Zistersdorf (Maschinenschlosser).

Im letzteren Fall wählte das Landesarbeitsamt eine von Dürr zur Verfügung gestellte Halle als Standort. Das Landesarbeitsamt kann selbst nicht Träger einer solchen Einrichtung sein, und die Zusammenarbeit mit Privatbetrieben hat auch organisatorische Vorteile.

Engelbert Sch. ergriff die Gelegen- -heit beim Schopf, meldete sich und bestand die Eignungstests. Sein Vater gehörte noch einer Generation an, die Ausbildung nicht für wichtig hielt. (Es soll noch immer da und dort Bauern geben, die ihre Kinder möglichst wenig lernen lassen, um sie „an die Scholle zu binden“.)

Der Weg aus dem Hilfsarbeiterdasein

Besagter Eignungstest war nicht leicht. Höchstens 16 Personen können an einem solchen Ausbildungslehrgang zum Maschinenschlosser teilnehmen, 30 bis 40 melden sich und werden einen ganzen Tag getestet. Nur die Besten haben eine Chance, denn diese Chance kostet die Öffentlichkeit viel Geld. Die Kursteilnehmer bekommen, wenn nötig, Unterkunft. Sie sind voll sozialversichert und beziehen bis zu 80 Prozent ihres letzten Bruttolohnes als Beihilfe. Der Kurs in Zistersdorf dauert zehn Monate. In diesen zehn Monaten Intensivarbeit wird nachgeholt, was andere in dreieinhalb Jahren Lehrzeit an Wissen und Können erwerben. Dementsprechend hart sind die An-

forderungen für Menschen, die das Lernen schon lange verlernt haben.

Rund 50 Prozent der Teilnehmer stammen aus der Landwirtschaft, und von ihnen kommt wiederum die Hälfte direkt aus der Landwirtschaft, ohne andere berufliche Erfahrung. 21 Jahre ist das Mindestalter. 48 Jahre alt war der bisher Älteste, ein Hilfsarbeiter, den sein niedriger sozialer Status begreiflicherweise „g'schtiert hat“ und der jetzt nach bestandener Prüfung wieder in seinem alten Betrieb arbeitet.

Das Gros der Teilnehmer ist 25 bis 30 Jahre alt. Einer war Maurer und kann mit einer Rückenverletzung nach einem Sturz vom Gerüst in diesem Beruf nicht mehr arbeiten. Einer ist Bäckersohn und selber fertiger Bäcker, hatte aber bereits mit 21 Asthma vom Mehlstaub, mußte als Hilfsarbeiter in die Fabrik gehen und ist jetzt als Maschinenschlosser Vorarbeiter. Einer war Kellner und Quartalstrinker und benötigte nach einer Entziehungskur einen Beruf, in dem er nicht mehr so leicht in Versuchung . kommt.

Und in jedem Kurs gibt es Vorbestrafte. Leute, die in der Jugend „einen dummen Streich gespielt haben“, aus der Bahn geworfen wurden, mit angefangener Lehrzeit dastehen - als Hilfsarbeiter.

„Wir nehmen sie gerne“, sagt der Leiter des Ausbildungszentrums, Heinrich Haidl, „denn gerade mit diesen Leuten machen wir besonders gute Erfahrungen. Sie wissen nämlich, was für sie auf dem Spiel steht. Sie sind dankbarer als jeder andere. Nur einer von ihnen hat den eisernen Willen nicht aufgebracht und den Kurs nicht durchgestanden. Aber kein einziger hat uns moralisch enttäuscht.“

Es wird täglich von 7.30 bis 15.50 Uhr gearbeitet - in „Unterrichtseinheiten“ zu 50 Minuten. Dazu kommen wöchentlich fünf bis zehn Stunden für die Hausaufgaben. Und auch in den 50 Minuten Mittagspause beeilen sie sich mit dem Essen, um schnell noch die Skripten vornehmen zu können, bevor es wieder losgeht.

In den ersten Wochen wird die Theorie noch in vorsichtiger Dosis verabreicht. Gegen Kursende besteht die Woche aus drei Tagen Theorie und zwei Tagen Praxis. Bei der Prüfung - sie entspricht der Gesellenprüfung - wird ihnen nichts geschenkt. Stolz des Kursleiters: 42 seiner Schüler traten zur Prüfung an, nur zwei fielen durch.

Die Kinder des Bauernsohnes, Nebenerwerbsbauern, Industriefacharbeiters und, vielleicht, eines Tages Werkmeisters („Wenn ich es durchhalte .. wenn ich es rein physisch und nervlich durchstehe ...“) Engelbert Sch. werden es nicht nötig haben, sich mit 39 Jahren vom Hilfsarbeiterstatus zum Facharbeiter weiterzubilden.

Er hat eine neunjährige Tochter

und einen fünfzehnjährigen Sohn. Der Bub geht ins Gymnasium, ins Schulbrüder-Internat in Strebersdorf. Das Schulgeld ist einer der Gründe dafür, daß der Vater ein Doppelleben als Bauer und Arbeiter führt. Das Töchterlein legt ein beachtliches musikalisches Talent an den Tag und darf Klavierstunden nehmen. Die Betonung hegt auf dem „darf“. Sie wollte es so. Um sieben Uhr früh setzt sie sich ganz von selbst ans Klavier.

„Vielleicht“, sagt der Nebenerwerbsbauer, der bis zu seinem 39. Jahr Hilfsarbeiter war, „wird sie eines Tages sogar Musik studieren, wer weiß ...“ Er selber bläst ja in der Dorfkapelle Trompete.

Eine neue Mentalität

Eine solche Mentalität, solcher Wille, solches Konsequenzen-Ziehen aus den eigenen Erfahrungen, solche Lernbereitschaft ist der fruchtbare Boden, auf den die Förderungsmaßnahmen fallen. Denn Engelbert Sch. steht ja hier nur als Beispiel.

Große Hoffnungen setzt das Grenzland auf den Fremdenverkehr, dem gerade die Unterindustrialisierung zugute kommt. „Unser Slogan heißt ,Das Grenzland lebt!', denn wer es nicht schafft, ist auch selber schuld“, meint etwa Otto Frummel, Bürgermeister von Laa an der Thaya, wo ansehnliche Freizeiteinrichtungen geschaffen wurden. Er reklamiert aber einen Ausgleich für die verkehrsmäßigen Handikaps, etwa bei der Straßenverkehrsabgabe oder bei der vorzeitigen Abschreibung.

Förderungsmaßnahmen, Fortbildung, Fremdenverkehr, das bedeutet für jene Teile Niederösterreichs, die im sozio-ökonomischen Fachenglisch „marginal areas“ heißen, Randgebiete der wirtschaftlichen Entwicklung, nicht nur ökonomische Besserstellung, sondern auch Unterpfand dafür, daß eine Mentalität um sich greift, die ihrerseits wieder psychologische Basis wirtschaftlicher Entwicklung darstellt.

Die aber geht gerade jetzt wieder einmal viel zu langsam voran. Das Bild ist uneinheitlich. Im Gebiet von Gmünd, im alten „Bandelkramer-land“, ist die Situation dank alteingesessener Hausindustrie etwas besser, in der Gegend von Zwettl um so schlechter: Viel zu viel Landwirtschaft, viel zu wenig Arbeitsplätze, zunehmende Abwanderung.

Bei Zistersdorf hebt und senkt sich noch da und dort in den Weinbergen der Schwengel der ölpumpe, bei Zistersdorf wurde Niederösterreichs erstes Erdöl erbohrt, ein Denkmal mit Gedenktafel erinnert daran. Aber Zistersdorf selbst war als Erdölgebiet nie besonders interessant, obwohl die sowjetische Mineralölverwaltung während der Besatzungszeit hier ihren Sitz hatte.

Um so wichtiger sind die rund 7000 Arbeitsplätze, welche die ÖMV in und um das rund 30 Kilometer entfernte Gänserndorf bietet. „Ohne die ÖMV“, sagen die Leute im Weinvier-

tel, „wäre von Wien bis zur Staatsgrenze alles ein Notstandsgebiet!“

Das Abnehmen der Erdölreserven ist ein weiterer Grund, die Entwicklung in dieser Region zu forcieren -und nach Möglichkeit stärker, als das Land allein es kann.

Denn die Alternative für das niederösterreichische Grenzland heißt nicht „Landwirtschaft oder Industrie“, sondern gerade die Industrialisierung erspart den Nebenerwerbsbauern den Exodus. Sie wollen bleiben. Aber sie können von ihrem bißchen Boden nicht leben. Auch mit seinem Festhalten am Boden ist Engelbert Sch. typisch für viele Nebenerwerbsbauern im niederösterreichischen Grenzland. Und nicht nur hier. (Denn bereits jeder zweite österreichische Bauer ist es im Nebenerwerb!)

Der Hof war ursprünglich nur halb so groß, und jetzt hat er achteinhalb Hektar. Eine Erbschaft ermöglichte die Aufstockung. 16 Hektar würden die Lebensfähigkeit als Vollbauer bedeuten. 16 Hektar wären der Wunschtraum des Facharbeiters Engelbert Sch., der in zwei Jahren die Werkmeisterprüfung ablegen will, wenn er durchhält. Der aber letzten Endes doch lieber ein richtiger Bauer wäre: „Etwas Schöneres kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich ein richtiger Bauer sein könnte, würde ich mit niemandem tauschen.“

Die Differenz von achteinhalb auf 16 Hektar jedoch ist kaum erschwinglich, „und wenn man das Geld hätte, wäre es in einer Generation auf keinen Fall wieder herauszuwirtschaf-ten.“ Denn nicht nur Bauland wird immer teurer, sondern auch Bauernland.

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