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Bedrohter Kern

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Der Krieg ist noch nicht aus, jetzt ist der stumme Krieg, der Krieg ohne Namen, von dem viele nichts wissen und wenige sich Gedanken machen, weil seine Angriffe lautlos sind und seine Zerstörungen dem Auge unsichtbar, bedächtig, aber mit infernalischer Stetigkeit vor sich gehen. Während wir von den Sorgen um Volksernäh-rung und Seuchenabwehr, Geldordnung und internationale Mißhelligkeiten befangen sind, vollziehen sich innerhalb unseres Volkes, hervorgerufen durch die seelischen Weiterwirkungen des Krieges, Umwandlungen voll tiefer Bedeutung. Sie sind so groß, daß sie, wenn sie ungehemmt fortdauern würden, die soziale und psychologische Struktur des österreichischen Volkstums aus seinem Kern heraus verändern müßten. Dieser Kern, in dem bisher die Kraftreserven österreichischen Wesens ruhten, war sein Bauerntum, aus dessen Gesundheit sich immer wieder der nationale“ Organismus erfrischte. In ihm lag gegenüber allen Gleichgewichtsstörungen des ökonomischen und sozialen Lebens die ruhige Balance. Jetzt aber ist es Tatsache geworden, vor der man nicht mehr die Augen verschließen darf, daß dieser Kern in seiner Substanz angegriffen w'rd.

Man kann die heutige Situation auf dem Dorfe nicht nüchtern und real genug sehen. Seien wir uns klar darüber, daß die5 nicht mehr die Angelegenheit eines Standes ist, sondern eine solche des ganzen Volkskörpers und des Staates. Vorbereitet wurde die Lage schon seit dem ersten Weltkrieg durch das Eindringen eines berufsfremden rechnerischen Händlergeistes in die namentlich um die größeren Städte gelagerten, ländlichen Schichten. Neue unheilvolle Elemente brachten die nazistische Herrschaft und die Kriegszeit. Familie und Hof haben ihre Aufgabenbereiche als Erziehungshelfer allzuoft fast zur Gänze eingebüßt, bäuerliche Familien wurden in ihrem moralischen Bestand schwer angeschlagen. Die langen Jahre der Trennung haben auch-hier nicht selten einen Zustand der Entfremdung geschaffen, der nur sehr langsam wieder vernarbt. Die Flüchtlingsströme, d'e Versetzten, aus ihrem Lebenserund Geworfenen und die vielen evakuierten oder geflüchteten Städter haben Fremdes, Zersetzendes bis zum einsamsten Hofe getragen. Die Entseelung des Dorfes hat das ländliche Weltbild auch im Religiösen erschüttert. So mancher kehrte aus einem harten Landsknechtleben mit Erlebnissen heim, in denen er ratlos alle überkommenen Werte verblassen sah, und findet sich nun in seinem zerschundenen, ausgebluteten Dorf mit seinem harten Leben nicht mehr zurecht. Eine besondere Frucht des verflossenen Systems ist es, daß sogar der aus-geprochen atheistische, religionsgegnerische Bauer — er wäre vor 1938 kaum denkbar gewesen — nicht nur möglich wurde, sondern vielfach auch öffentliche Ämter bekleidet. Dazu kommen die in einzelnen Bundesländern unzweifelhaft fortschreitende wirtschaftliche Verelendung des Bauernlandes, das Überwiegen des weiblichen Bevölkerungsteiles durch den Krieg und die überhaupt noch nicht abzusehenden biologischen Schäden, die der Krieg im Dorfe verursacht hat. Auch das äußere Bild ist anders geworden, nicht zuletzt bestimmt durch den Lebenshunger der Jugend, die vermeint, weiß was versäumt zu haben und nachholen zu müssen — Fußball wettkämpfe mit städtischen Mannschaften dritter Garnitur bestimmen den Dorfsonntag, fast in jedem Darf gibt es moderne Tanzkurse, in denen die bäuerliche J“gend dem Swing und Foxtrott huldigt. Verändert in so manchem sind häufig auch die inneren Beziehungen der Dorfgemeinde, die Geltung der Autorität des Bürgermeisters, des Lehrers, auch des Pfarrers, dessen Rede leicht über die Köpfe hinweggeht, wenn sie die letzten Dinge nicht zu erfassen vermag.

Ist das Bild nur grau in grau? Ist es ganz ausnahmslos so? Meldet sich nirgends neues, frisches Leben? So ist es nicht. Es gibt örtliche Nuancierungen und Unterschiede der Verhältnisse in den einzelnen Bundesländern, nur sind mit verminderter Stärke die negativen Kräfte überall dieselben. Aber sie sind nicht mehr allein. Ähnlich wie in den Städten ist auch auf dem Lande die Jugend die Trägerin einer wachsenden Widerstandsbewegung segen den allgemeinen Ungeist, die Verflachung und gegen die seelische Versumpfung heimatlichen Bodens. Man kann vielenorts von einem neuen hoffnungsvollen Aufbruch religiösen Lebens sprechen — Heimkehrerwallfahrten nach altem Brauch, mit alten Wallfahrerfahnen stundenlanges Pilgern zu Gnadenorten der Heimat, prachtvolle Kirchenfeste, bei denen durch die Teilnahme sämtlicher Parteien mit ihren Fahnen oft auch die Frage der Demokratie einfach und gesund gelöst ist — sie zeigen in Zusammenhalt mit den anderen Tatsachen ein ununterbrochen flimmerndes gegensätzliches Wechseln, das noch nicht verrät, was in ihm gar wird, eine Unsicherheit, die sich nur dort erhellt, wo ein rechter Mann zur richtigen Zeit das richtige Wort findet. Und dies ist vielleicht dis Trostvolle. Teder, der aus einem weite Schau bietenden Rerufskre ise die gegenwärtige rtsycholosische Lage des österreichischen Dorfes übersieht, wird die Überzeugung, die hier ausgestochen sei, bestätigen, daß vielleicht noch nie unser Bauernrum und besonders die bäuerliche lugend bereiter war, zu hören und zu folgen.

Jetzt, im Augenblick, kann noch alles werden aus diesem widerspruchsvollen Gären. Jetzt bedürfte es aller wahrhaft verantwortungsvollen bäuerlichen Organisation en, um dieses rechte Wort zu sprechen, denn nicht lange mehr und es wird zu spät sein. Zu oft haben sich gerade die Organisationen auf * die nur scheinbar unerschöpflich Kultursubstanz unseres Bauerntums verlassen, zu lange wurde nur die rechnerische und nie die seelische, die Gemütswertseite im Bauerntum gepflegt. Zu wenig sieht man, daß die Landflucht, die heute trotz des Hungers in den Städten wieder ein brennendes Problem geworden ist, ihre letzten Ursachen nicht in wirtschaftlichen Dingen, sondern • in der seelischen Unruhe und Leere vieler bäuerlichen Menschen hat, die man immer noch vergißt, in Rechnung zu stellen.

Wir sind an einer großen Wende. Ihr Gebot kann nicht mehr mißverstanden werden.

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