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Soziologie des Bauerntums

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Das Wort „Baue r“ hat im Wandel der Zeiten manche Veränderungen seines Klangcharakters durchgemacht. Lange Zeit hat man dem Bauernstand Gleichgültigkeit oder gar Mißachtung entgegengebracht. Später löste sich romantische Spielerei mit politisch gefärbter Idealisierung des bäuerlichen Wesens ab, die dann im nationalsozialistischen Deutschland zu einer einseitigen Obersteigerung und Übertreibung der Bauernfreundlichkeit geführt hat. Aus propagandistischer Absicht heraus wurde uns ein unwahres, am Rassegedanken ausgerichtetes Bild vom nordisch-germanischen Bauern vorgezeichnet. Die Begleitmusik dazu bildeten Schlagworte, wie „Blut und Boden“, „Odal“, „Bauernadel“, die uns heute noch fatal im Ohre klingen.

Die natürliche Folge von solchen Ober-treibungen ist die, daß das Zünglein der Waage völlig nach der anderen Seite umzuschlagen droht und nun alles restlos abgelehnt wird, was an jene Irrwege erinnert. Darin scheint mir überhaupt der größte Schaden zu liegen, den die letztverflossene Zeitströmung der deutschen Wissenschaft zugefügt hat, daß an sich wichtige Problemstellungen maßlos verbogen und in das propagandistische Fahrwasser abgeleitet wurden, was zur Folge hat, daß der Feinfühlige, angewidert vom Nachklang der bis zum Überdruß wiederholten Schlagwörter, von den betreffenden Wissenszweigen oder Problemen sich am liebsten völlig abkehren und den Uhrzeiger der Wissenschaft um ein Dutzend Jahre zurückstellen möchte.

Daraus ergibt sich ein schweres Dilemma für die zukünftige wissenschaftliche Entwicklung im deutschen Sprachgebiet. Das hier herausgegriffene Gebiet der B a u r n-tumsforschung soll zeigen, daß zwar an alte, vor der Nazizeit liegende Traditionen angeknüpft werden kann, daß aber auch die Arbeiten des letzten Jahrzehnts beachtet und daneben kontrolliert und revidiert werden müssen. Außerdem wird man aber auch nicht vergessen dürfen, daß vom Ausland her mannigfache Anregungen zu einem Neuaufbau dieser Wissenschaft herangetragen werden können.

Wir konnten unlängst in diesen Blättern zeigen, daß wertvolle Ansätze zu einer Bauerntumsforschung von verschiedenen Richtungen gemacht wurden. Doch zu einer wahrhaft organischen Gesamtschau des Bauerntums sind wir noch nicht vorgedrungen. Dazu fehlt uns noch ein wichtiges Bindeglied, nämlich jener Wissenszweig, den wir als bäuerliche oder ländliche Soziologie bezeichnen können.

Anregungen zum Ausbau diese Wissenszweiges lassen sich sonderbarerweise aus dem nordamerikanischen Kulturkreis schöpfen. Das erscheint seltsam, denn die Vereinigten Staaten — so geht die landläufige Auffassung — kennen ein Bauerntum im europäischen Sinne nicht. Auch die nationalsozialistische Doktrin suchte eifrig einen tiefgreifenden Gegensatz zwischen dem amerikanischen (angelsächsischen) Farmer und dem deutschen, beziehungsweise europäischen Bauern zu konstruieren. Der Verfasser kann sich dieser Ansicht nicht anschließen. Freilich hängt die Entscheidung dieser Frage davon ab, wie man „Bauer“ und „Bauerntum“ definiert *.

Doch sei dem wie auch immer, jedenfalls steht fest, daß die amerikanische Wissenschaft das Wirken der landwirtschaftlichen Bevölkerung keineswegs einseitig vom betriebswirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, sondern das menschliche und gesellschaftliche Moment besonders in neuester Zeit stark in den Vordergrund schiebt. Kein altbäuerliches Land der Welt kann sich rühmen, eine so wohlausgebaute und tiefschürfende Soziologie der Landbevölkerung ,— so wird sich die Bezeichnung „r u r a 1 s o c i o 1 o g y“ wohl am zutreffendsten übersetzen lassen — in sein Wissenschaftsgebäude eingegliedert zu haben wie die USA.

Wie die agrarwirtschaftliche Forschung so ist auch die Landsoziologie der USA ein recht junger Wissenschaftszweig. Der Anstoß zu seiner Entwicklung läßt *'ch auf die seinerzeit von Theodor Roose-v e 11 eingesetzte „Country Life Comis-sion“ zurückverfolgen. Die Verknappung des Siedlungslandes und das erstmalige Auftreten einer Landflucht hatte um die Jahrhundertwende die öffentliche Meinung Amerikas zum ersten Male in starkem Maße auf die sozialen Probleme auf dem Lande hingelenkt. Bald folgten auch die ersten Hochschulvorlesungen und Lehrbücher, desgleichen die Gründung einer „Division of Rural Life“ im Rahmen des Bundeslandwirtschaftsdepartements. Vorgearbeitet worden war dieser Entwicklung durch die allgemeine Soziologie, die auf den amerikanischen Universitäten zwischen 1860 und 1870 heimisch wurde und die ihren Ideengehalt hauptsächlich aus der naturalistischen und organischen Richtung Herbert Spencers bezog. Sie hat sich aber bald von europäischen Einflüssen befreit und als selbständige wissenschaftliche Disziplin von etwa 1910 ab einen großen Aufchwung erlebt. Im Rahmen der stark einsetzenden Spezialisierung . unter gleichzeitiger starker Betonung der sozial-psychologischen Betrachtungsweise hat dann auch die L a n d s o z i o 1 o % i e, die zunächst in enger Arbeitsgemeinschaft mit der agrarwirtschaftlichen Forschung stand, ihr eigenartiges Gepräge und ihre Sonderstellung erhalten.

Den Ausgangspunkt bildete das Studium der ländlichen Bevölkerung in ihrer Zusammensetzung und in ihrer Dynamik, wobei besonders auch den Fragen der Binnenwanderungen und der Landflucht Beachtung zuteil wurde. Das Hauptgewicht der Soziologie liegt aber bei den Fragen der gesellschaftlichen Gliederung. Unter den sogenannten primären Gesellschaftsgruppen („Gemeinschaften“ im Sinne von Tönnies) steht natürlich die Landfamilie im Vordergrund des Interesses. Unter dem Einfluß europäischer Forschung (Le Play, Ernst Engel und andere) wurde das Problem des Lebensstandards ländlicher Familien eifrigst und unter großem Aufwand von statistischen Unterlagen studiert. Oft ergingen sich freilich solche Arbeiten in reinen Kostenberechnungen und ver-nachlässigfen das soziologische Element. Doch besann man sich sehr wohl auch darauf, daß der Begriff Lebensstandard nicht nur materielle Güter, sondern auch seelische und geistige Werte umfaßt und daß das Zusammenwirken dieser Komponen-* ten erst eine wirkliche Befriedigung der inneren Bedürfnisse des Menschen ermöglicht. So ist man dann mehr und mehr von der ursprünglich rein mechanischmateriellen Einstellung abgerückt und betont neuerdings die Ermittlung des Einflusses psychologischer und sozialer Faktoren auf die Lebenshaltung.

Neben der sozialen Urzelle, der Familie, spielen in der landsoziologischen Forschung die Institutionen und O r g a n i s i-t i o n e n, als soziale Gruppen zweiten Grades bezeichnet, eine bedeutsame Rolle. In den Vereinigten Staaten haben die beruflichen Interessenvertretungen und außerberuflichen Zusammenschlüsse in Form von Vereinen, Klubs, Jugendverbänden und dergleichen eine große Verbreitung gefunden. Sie bilden ein ausgedehntes und lehrreiches Studienobjekt für die soziologische Forschung. Bei der charakteristischen Stellung der Kirchengemeinschaften und bei dem starken Interesse, das man in Amerika trotz angeblich materialistischer hinstellung religiösen Fragen entgegenbringt, ist es nicht zu verwundern, daß gerade auch das Schrifttum über die „Rural C h u r c h“ sehr reichhaltig ist. Allerdings wird man vielen dieser Studien den Vorwurf einer gewissen Äußerlichkeit und Oberflächlichkeit nicht ersparen können. Fördernd wirkte auf diesem engeren Fachgebiet das 1921 in New York gegründete „Institute for social and religious Research“.

Das Gebiet der Raumsoziologie ist durch zahlreiche Studien über die L a n d-gemeinde, beziehungsweise größere, kulturell einheitliche Gebietskomplexe gefördert worden. Die oft sehr verbreiteten gesellschaftlichen Beziehungen im Dorfe (Township) wie auch die sozialen Fäden, die der Einzelfarmer knüpft, bilden ein dankbares Forschungsobjekt.

Natürlich beschränkt sich die Landsoziologie keineswegs auf den selbständigen Farmer mit Eigenbesitz, sondern stellt ebensosehr die anderen ländlichen Klassen, ailso die Pächter, die meist als Teilbauern wirtschaftenden Neger, die Landarbeiter, die Gewerbetreibenden auf dem Lande usw., mit in ihren Betrachtungskreis herein. So dürfte auch eine Bauerntumssoziologie für den europäischen Raum nicht beim bäuerlichen Menschen im engsten Sinne des Wortes stehenbleiben, sondern müßte alle Schichten der ländlichen Kultur und Wirtschaftsgemeinschaft zusammenfassend und einheitlich behandeln.

Man sieht also: vieles aus der Thematik der amerikanischen Landsoziologie läßt sich unmittelbar auf unsere heimischen Verhältnisse übertragen. Aber auch die M e-t h o d i k de; amerikanischen Forschung verdient volle Beachtung. Ihre induktive, auf sorgfältige statistische Analyse aufgebaute Arbeitsweise zeugt von der stren gen Sachlichkeit und Unbestechlichkeit der reinen Wahrheitssuche. Auf diesen Forschungsgeist, den uns in Europa die Politik getrübt und verfälscht hat, müssen wir wieder zurückgreifen. Was den europäischen Beobachter vielfach am amerikanischen Wissenschaftsbetrieb zu stören pflegt, ist die ausgesprochen pragmatische und zweckbetonte Einstellung der Forschung. Ist aber wirklich ein hochmütiges Herabschauen auf wissenschaftliche Leistun gen berechtigt, bloß wefl sie an praktischnützlichen Zielstellungen orientiert lind? Wenn das so wäre, dann müßte ein Großteil der angewandten Wissenschaften, der Technik, der Naturforschung und auch der Landwirtschaftswissenschaft, als zweitrangige Forschung bezeichnet werden. Mir scheint es vielmehr, daß man ruhig auch unsere Geistes- nnd Sozialwissenschaften etwas mehr pragmatisch ausrichten könnte und daß die Gesamtwissenschaft durch eine Vermählung ron alter europäischer Vorliebe für Deduktion und Theorie, für Weitabgewandtheit und Verweilen in den Sphären der Spekulation mit dem induktiven, praktisch ausgerichteten Forschungsgeist der Amerikaner nur gewinnen könnte.

Es soll nun durchaus nicht verkannt und vergessen werden, daß europäische Ansätze und Ausgangsmaterial für eine 3aucrnsoziologie im deutschen Sprachgebiet reichlich vorhanden sind. Aus neuerer Zeit lieeen beachtenswerte Arbeiten vor (L. Wiese, Ipsen, H. Günther, Rumpf und andere), bei denen man freilich teilweise die entsprechenden weltanschaulichen Abstriche machen muß. Aber auch aus älterer Zeit könnte vieles Anregende neu ausgegraben werden. Ich denke beispielsweise an die Schriften des Vereines für Sozialpolitik, soweit sie bäuerliche Verhältnisse behandeln, an manche gute Studie über das Wirken und Wesen der Bauernfrau, über die Landschule, über das religiöse Leben auf dem Lande (J. Weigert, G. Koch), über Bauernpsychologie (L'Honet). In Österreich hat besonders die volkskundliche und agrarhistorische Seite der Bauerntumsforschung sorgsame Pflege gefunden (Wopfner, Geramb und andere). Auch die Bestrebungen der ländlichen Wohlfahrtspflege spielen indirekt in das Gebiet der Bauernsoziologie herein, so wie als mittelbare, wenn schon mit Vorsicht zu genießend Quelle, der Biaernroman in seinen mannigfachen Formen nicht vergessen werden sollte.

Das europäische Ausland hat ebenfalls manches Wertvolle zutage gefördert. Die Schweiz als echtes Bauernland hat neben ihren bahnbrechenden Rentabilitätserhebungen über Bauernbetriebe (E. Laur und seine Schule) immer auch die menschlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Beziehungen als gleichwertig mit den .wirtschaftlichen Belangen herausgestellt. Auch aus der viel zu wenig genützten Fundgrube des slawischen Schrifttums läßt sich manches Baumaterial zu einer europäischen Soziologie beibringen. Es ist fast vergessen, daß das vorbolschewistische Rußland eine sehr hochstehende und originelle Bauern-tumsforschung hatte (zum Beispiel Tscha-janoff; „Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft“). Nicht zuletzt ist auch I t a-1 i e n im letzten Jahrzehnt mit wertvollen Monographien über bäuerliche Familientypen und einer umfangreichen Enquete über die Entvölkerung der Gebirgsbaucrn-gegenden in die Schranken getreten (Veröffentlichungen des Istituto Nazionale di Economia Agraria, Rom).

Österreich als echtes, urwüchsiges Bauernland, das, wirtschaftsgeographisch gesehen, durch seine Vielgestaltigkeit sehr interessante Probleme bietet, das gcopoli-tisch als Bindeglied zwischen West und Ost fungieren könnte, das außerdem eine so reiche wissenschaftliche Tradition und bewährte Bildungsstätten beherbergt, wird wie kaum ein zweites Land berufen sein, auf dem Gebiet der Bauerntumsforschung anregend und führend zu wirken.

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