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Grünes Proletariat?

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Eine der ersten großen Taten nach der Revolution des Jahres 1848, nach der Gewährung einer Konstitution, war die Aufhebung der Robot durch den Reichstag auf Antrag des schlesi-schen Abgeordneten Hans Kudlich. Die Tür für ein freies Bauerntum in Österreich war aufgestoßen! Allerdings, die Grundentlastung mußte von vielen Bauern teuer erkauft werden. Nach dem Gesetz zahlte ein Drittel der Ablösesumme der Staat, auf ein Drittel mußte der bisherige Grundherr verzichten, und für ein Drittel hatten die

Der Bauer als Ankläger

Bauern aufzukommen. Für viele Höfe bedeutete dies den Todesstoß.

Der Zoll der Befreiung war für einen Teil der Bauern der Abschied von der Scholle. Neugegründete Fabriken und Manufakturen warteten damals, im ersten Stadium der Industrialisierung, auf billige Arbeitskräfte. Sie kamen in Scharen, die besitzlosen Landarbeiter und die verarmten Bauern, deren Hof unter den Hammer gekommen war. Und es ist bezeichnend, daß diese ehemaligen Bauern das Hauptkontingent des sogenannten Proletariats stellten.

Man weiß, wie diese Verproletari-sierung aussah:

• geringer Lohn bei enormer Arbeitsleistung;

• keine gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit, der 16-Stunden-Tag war durchaus „normal“;

• Sonntags- und Nachtarbeit — auch für die Frau;

• Kinderarbeit:

• keine Berufsausbildung, keinen Anteil am geistigen und kulturellen Leben;

• soziale Unsicherheit und katastrophale Wohnverhältnisse.

Diese traurigen Zeiten sind für uns Österreicher wohl vorüber. Schon in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hat die Sozialgesetzgebung bedeutende Fortschritte gemacht: Die Fabrikarbeit für Kinder unter 14 Jahren wurde verboten; Frauen und Jugendliche durften nicht mehr zur Nachtarbeit herangezogen werden; der Elf-stundentag wurde eingeführt: Arbeitsschutz und Sozialversicherung brachten sozusagen ein Existenzminimum an Sicherheit; das Koalitionsrecht und die Wahlreformen gaben dem Arbeiter auch die politischen Rechte.

'In der Ersten Republik wurde die Sozialgesetzgebung weitergeführt

(Achtstundentag, Arbeitsurlaubsgesetz usw.) und im sozialen Rechtsstaat der Zweiten Republik bereits weitgehend vollendet (ASVG, Einführung der 45-Stunden-Woche).

Es ist richtig, das Proletariat „klassischer Prägung“ — von Marx als die Triebfeder der Weltrevolution betrachtet — existiert in Österreich seit langem nicht mehr. Der moderne Sozialstaat hat die Fittiche des Wohlstandes ausgebreitet, und es scheint, daß es nur noch wenige gibt, die mit seinem Schatten vorliebnehmen müssen.

Wir registrierten kürzlich einen ..Wohlstandsstreik“ — gibt es auch so etwas wie ein „Wohlstandsproletariat“? Bauernbunddirektor Minister a. D. Graf hat unlängst bei einer Kundgebung den Ausdruck Bauernproletariat geprägt. Nur ein Schlagwort? Psychologische Demagogie?

Führen wir uns einmal die wirtschaftliche und soziale Situation vieler bäuerlicher Menschen vor Augen.

Der „Grüne Plan“ enthält eine Reihe von Statistiken, die die Benachteiligung der bäuerlichen Bevölkerung am Volkseinkommen darlegen:

• Das sogenannte Pro-Kopf-Einkommen der in der Landwirtschaft Beschäftigten beträgt einschließlich der Unternehmer pro Monat — für 1961 errechnet — 830 Schilling.

• Vom Nationaleinkommen erhält die Landwirtschaft elf Prozent, während ihr Bevölkerungsanteil 16 Prozent beträgt.

• Von den gesamten Arbeitsstunden in Österreich leistet die Landwirtschaft über 35 Prozent. Manche Bäuerinnen kommen auf ein Arbeitspensum von rund 4500 Stunden pro Jahr.

• Der 16-Stunden-Tag ist für viele

Bauern und Bäuerinnen, vor allem in den Sommermonaten, noch eine Selbstverständlichkeit. In der Erntezeit wird auch häufig sonntags gearbeitet. Wie überhaupt die Bäuerin auch an Sonn-und Feiertagen fünf bis sieben Stunden regelmäßig schaffen muß. Sie hat häufig morgens und abends das Vieh zu füttern, sie muß kochen und die Kinder versorgen.

Nur fünf Prozent der Bäuerinnen sind nach einer vom Bundesministerium für Land- und Forstwirtschaft ausgearbeiteten Studie nicht in der Feldwirtschaft eingesetzt. Rund zwei Drittel aller Bäuerinnen werden dieser Studie zufolge in „unzumutbarer und teilweise sogar gesundheitsschädlicher Weise“ belastet. Dies gilt vor allem für die jungen Mütter! Es gibt wohl einen Mutterschutz für die Landarbeiterinnen — aber nicht für die Bäuerin. Schon nach dem Landarbeitsgesetz vom 2. Juni müssen der Dienstnehmerin, die guter Hoffnung ist, eine Reihe von Begünstigungen eingeräumt werden: Vom vierten Monat an darf sie mit schweren körperlichen Arbeiten nicht mehr beschäftigt werden (§ 75/ 2). Jede Beschäftigung über acht Stunden ist von diesem Zeitpunkt an untersagt. Schwangere sind ferner in den letzten sechs Wochen vor ihrer Niederkunft auf Verlangen von jeder Arbeit zu befreien. Wöchnerinnen dürfen bis zum Ablauf von acht Wochen nach der Geburt nicht beschäftigt werden.

Wie gesagt, diese Bestimmungen gelten nur für die Landarbeiterinnen. Bäuerinnen arbeiten — in der Regelf — bis zum Tag vor der Geburt. Oft müssen sie bis dahin auch die schweren Stallarbeiten verrichten. Die vielen Fehlgeburten sind beredtes Zeugnis der Ausnützung dieser jungen Frauen. Kein Wunder also, wenn sich viele Bäuerinnen „als Sklaven der modernen Wirtschaft“ fühlen (Rektor Wild im „Linzer Volksblatt“, 1. Mai 1962).

Der akute Arbeitskräftemangel, die unzureichende Rationalisierung haben zu einem erschreckenden Anwachsen der Kinderarbeit auf dem Bauernhof geführt. Zittrige Hände, die kaum imstande sind, die Schulfeder zu führen, müde, überarbeitete Kinder, die während des Schulunterrichtes einschlafen — das ist keine Seltenheit in unseren Landschulen. Um vier oder halb fünf Uhr müssen die 12- bis 13jährigen oft schon aus dem Bett, um beim Mähen des Grünfutters oder bei der Fütterung des Viehs zu helfen. Mit acht, zehn Jahren sitzen die Buben schon auf dem Traktor — und nicht bloß eine Viertelstunde. Jedes Jahr gibt es auch eine Reihe Traktorunfälle, die durch Kinder am Lenkrad verursacht werden. Im Vorjahr ist ein Zwölfjähriger im Waldviertel beim Pflügen mit dem Traktor tödlich verunglückt. Nach einer Statistik erlitten im Jahre 1960 — für 1961 liegen die Zahlen noch nicht vor — 1165 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren bei Unfällen in der Land- und Forstwirtschaft Verletzungen.

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