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Beängstigendes Gesundheitsgefälle

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Wir haben mit dem Dementieren von Vorstellungen über die Sozialprobleme der Landwirtschaft begonnen. Wir schließen auch damit. Reihenuntersuchungen bei der bäuerlichen Bevölkerung haben ergeben, daß 72 bis 78 Prozent ärztlich behandlungsbedürftig sind. Auch die Untersuchungen bei den militärischen Musterungen zeigen einen äußerst schlechten Gesundheitszustand der bäuerlichen Bevölkerung. Die Behauptung von der gesunden Landbevölkerung erweist sich somit als ein Märchen. Der managerkranke Bauer, die überarbeitete Landfrau sind Sozialerscheinungen, die allen jenen, die gegen die Landwirtschaft Sturm laufen, Anlaß zum Nachdenken geben sollten. Die Landwirtschaft ist nicht ein Subventionsparadies, sondern ein weit über Gebühr beanspruchter Teil unseres Sozialgefüges.

Es ist begreiflich, wenn sich die Landwirtschaft dagegen wehrt, mit Begriffen wie „Großagrarier" usw. ständig in der Öffentlichkeit verteufelt zu werden und dazu noch indirekt Lasten anderer Berufsschichten tragen zu müssen. Diese Last wird um so Spürbarer, als die Landwirtschaft heute ebenso wie andere Berufsschichten unter der Überalterung und Kinderarmut zu leiden beginnt. Heute sind 34 Prozent der in der Landwirtschaft Tätigen älter als 50 Jahre, zugleich sinkt die Kinderzahl katastrophal: Die Zahl der in der landwirtschaftlichen Zuschußrentenversicherung mit den Betriebsführern (das heißt selbständigen Bauern) pflichtversicherten Kinder ist in den ersten zehn Jahren dieser Versicherung (1958 bis 1967) von 90.000 auf rund 41.000, das heißt auf 46 Prozent, gesunken. Das ist sichtlich eine Folge der Abwanderung, aber auch die Geburtenzahl in der bäuerlichen Bevölkerung nimmt erschreckend ab. Eine stichprobenweise Erhebung ergab, daß im Bundesdurchschnitt 32,3 Prozent der bäuerlichen Betriebe keine Kinder unter 14 Jahren haben. In Vorarlberg haben sogar 45 Prozent und in dem angeblich so kinderreichen Burgenland 40,7 Prozent der bäuerlichen Betriebe keine Kinder unter 14 Jahren. Der kinderlose Bauernhof, ja sogar der Einmannbetrieb kommt mit erschreckender Häufigkeit vor. Sicherlich würden die Zahlen günstiger sein, wenn die Versorgung des alten Bauern und der alten Bäuerin zeitgemäßer geregelt wäre. Angesichts einer Rente von 220 Schilling im Monat beziehungsweise von 440 Schilling für ein Ehepaar kann man von keinem Bauern verlangen, daß er trotz Alter und Krankheit seinen Hof abgibt. Die Zuschußrentenversicherung ist seinerzeit bei ihrer Gründung von dem Gedanken ausgegangen, daß der Bauer im Alter durch das Ausgedinge gesichert sei und die Rente nur als eine Art bares Taschengeld anzusehen sei. Die Wirklichkeit lehrt, daß die Möglichkeit des Ausgedinges längst überholt ist und ein Bauer ebensowenig wie ein Gewerbetreibender oder ein Beamter auf ein Ausgedinge rechnen kann. Man wird auch hier, und zwar sclinell, zur Vollernte kommen müssen, Fachleute behaupten, daß dann sogar sehr viele Probleme wie etwa das Milchproblem rasch geregelt würden, weil tausende Bauern nicht gezwungen wären, sich noch auf ihre alten Tage mit einigen Kühen das karge Brot zu verdienen.

Die vorurteilslose Betrachtung der agrarischen Sozialstruktur ergibt, daß die Landwirtschaft sehr wohl verstanden hat, sich den modernen Verhältnissen anzupassen. Das, was viel mehr not tut, ist, daß auch die übrige Öffentlichkeit den realen Entwicklungen Rechnung trägt und sich zu Reformen auf Grund der Tatsachen bereit erklärt, anstatt mit Schlagworten eine Hetzpolitik gegen einen Stand zu betreiben, der unter sehr erschwerten Lebensbedingungen täglich seine Pflicht erfüllt.

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