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Kriege aus Unterentwicklung..

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Robert S. McNamara war US-Verteidigungsminister von 1960 bis 1968 unter Kennedy und Johnson. Der Technokrat, der den Computer zum wichtigsten Instrument der strategischen Planung machte, zog sich aus dem Pentagon in die Weltbank zurück. In seinem soeben im Verlag Fritz Molden erschienenen Buch „Die Sicherheit des Westens“ (deutsche Übersetzung von Gunther Martin) faßt McNamara seine Grundthesen über die Strategie im 20. Jahrhundert zusammen.

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Robert S. McNamara war US-Verteidigungsminister von 1960 bis 1968 unter Kennedy und Johnson. Der Technokrat, der den Computer zum wichtigsten Instrument der strategischen Planung machte, zog sich aus dem Pentagon in die Weltbank zurück. In seinem soeben im Verlag Fritz Molden erschienenen Buch „Die Sicherheit des Westens“ (deutsche Übersetzung von Gunther Martin) faßt McNamara seine Grundthesen über die Strategie im 20. Jahrhundert zusammen.

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„Nach mehr als einer Million Jahre des Lebens auf der Erde hat der Mensch schließlich einen Punkt erreicht, an dem er sich zu neuen, klareren Erkenntnissen über die innere Gesetzmäßigkeit des Begriffes Sicherheit durchringen muß, wenn er überleben will. Ich glaube, daß ihm dies gelingen wird, und zwar aus zwei Gründen:

Erstens: Die technische Revolution hat in unserer Ära ihr rasantes Tempo so sehr auf den Gang der Geschichte übertragen, daß wir nun viel konkreter als je zuvor die völlige Sinnlosigkeit des totalen Krieges zu ermessen vermögen. In den ersten beiden totalen Weltkriegen war ein Endsieg noch halbwegs möglich. Ein wirklicher Sieg nach einem dritten totalen Krieg ist nicht einmal vorstellbar, denn kein Staat hat Aussichten, in einer thermonuklearen Auseinandersetzung zu gewinnen. Die beiden Weltmächte, die nun eine gegenseitige garantierte Zerstörungskapazität erlangt haben, wissen das genau. Und wenn der heutige Friede auch nicht gerade der Idealeustand sein mag, ist es dennoch äußerst wichtig, daß völlige Klarheit über die drohenden Gefahren herrscht, denn dann erlegen sich beide Seiten bei kleineren Konflikten Zurückhaltung auf. Obgleich es in Krisensituationen — in Berlin, Kuba, dem Nahen Osten und Vietnam—, wo sich die Interessensphären berührten, zu ernsten Gegenüberstellungen kam, handelten — und handeln weiterhin — die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion maßvoll und in realistischer Einschätzung der Lage. Der zweite Grund für meine Uberzeugung, daß die Menschheit gerade in unserer Zeit leichter ihre Sicherheit zu erlangen vermag — was nichts daran ändert, daß es eine Zeit ständiger Gefahren bleibt —, ist der, daß wir allmählich einsehen, daß die Festigung der Beziehungen zwischen den „reichen“ Staaten von der Konsolidierung der Verhältnisse in den „armen“ Ländern beeinflußt wird. Und auf weite Sicht ist die Stabilisierung in den armen Staaten eine Funktion der Entwicklung. Dies zeigt sich deutlich genug in jenen verarmten Ländern, wo sich die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung dem Siedepunkt nähert, in Ländern, die von Hungersnöten und Seuchen heimgesucht werden und bei versiegenden Versorgungsquellen den schweren Druck eines großen Geburtenüberschusses auszuhalten haben. Doch mit der bloßen Erkenntnis der offenkundigen Wechselwirkungen zwischen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Stagnation einerseits und vulkanisch brodelnden inneren Wirren anderseits ist es nicht getan — wir müssen etwas dagegen unternehmen, sehr viel sogar. Aber ich glaube, daß wir bald intensiver helfen werden. Die problematische Frage lautet: Wie viele zwielichtige Guerillakriege — Kriege, deren Nährboden die Unzufriedenheit ist, die aus der Unterentwicklung resultiert — werden die reichen Staaten noch in voller Ruhe und Gelassenheit mitansehen, bevor sie die einzig möglichen Konsequenzen ziehen, um das Übel an der Wurzel auszurotten? Der Mensch besitzt die unglückselige Fähigkeit, sich vor den nackten Tatsachen ganz bewußt in holde Täuschungen zu flüchten. Das tut er oft, um der Bedrängnis unerfreulicher Wahrheiten auszuweichen, nur weil dies fürs erste bequemer ist, als sich den schweren Aufgaben sofort zu stellen. Doch erfahrungsgemäß gilt für solche Fälle der Satz: ,Der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.' Indes, die reichen Nationen haben sich bereits lange genug Selbsttäuschungen über die Probleme der notleidenden Länder hingegeben, und ich schöpfe immer mehr Hoffnung, daß bald — ich sage „bald“ nur deshalb, weil sich Verzögerungen immer katastrophaler auswirken, da die Saat der Gewalt von Jahr zu Jahr bedrohlicher aufschießt — ein entscheidender Kurswechsel erfolgen wird. Die begüterten, gesicherten Staaten der Welt werden erkennen, daß sie aller Voraussicht nach weder begütert noch gesichert bleiben können, wenn sie die Augen vor der Pestilenz der Armut verschließen, welche die ganze südliche Hälfte des Erdballs erfaßt hat. Sie werden die Augen öffnen und handeln — und sei es nur, um sich ihre eigene Immunität gegen die Infektion zu bewahren. In den reichen Staaten, die Milliarden Dollar für Kriegsmaterial ausgeben, wird das wachsende Mißverhältnis zwischen diesen immensen Summen und den relativ verschwindend geringen Beträgen, die der Entwicklungshilfe gewidmet sind, zum Nachdenken anregen. Nicht deshalb, wiedl diese reichen Staaten plötzlich philanthropische Neigungen entdecken, sondern weil sie allmählich lernen, die Dinge realistischer zu bewerten. Sie werden einen Punkt realistischer Erwägungen erreichen, an dem es klar wird, daß ihnen ein Dollar mehr für Waffen weniger Sicherheit einbringt als ein Dollar mehr für die Entwicklungshilfe.

Wenn sich die reichen Staaten der nördlichen Hemisphäre gründlich mit diesem Problem auseinandersetzen, werden sie — so glaube ich — zu dem Schluß kommen, daß sie heute dieser Phase realistischer Einschätzungen bereits nahe sind. Ebenso wie die kollektive Sicherheit die einzig vernünftige Strategie in einer halb freien, halb totalitären Welt ist, so ist die kollektive Entwicklungshilfe die einzig vernünftige wirtschaftliche Strategie in einer halb satten und halb dem Hungertod verfallenen Welt. Kollektive Sicherheit und kollektive Entwicklung sind nur zwei Seiten derselben Medaille.“

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