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Auch Prag braucht Weizen

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Hohe tschechoslowakische Regie-rungs- und Parteifunktionäre sind darin einig, daß das „Getreideproblem der CSSR“ dringend gelöst werden muß. Alle Anstrengungen des Regimes, in der Getreideproduktion Selbstversorger zu werden, schlugen fehl. Der Direktor-der Abteilung für Getreideproduktion im Ministerium für Agrarwirtschaft und Ernährung, Vladimir Stoklasa, wies kürzlich sehr offenherzig auf die dringende Notwendigkeit der Lösung dieses Problems hin. Es handelt sich — seiner Auffassung nach — um einen „ganzen Komplex von Fragen“, verbunden mit dem politischen Ziel, endlich die Rolle der Landwirtschaft in der gesamten sozialistischen Wirtschaft zu definieren. Endziel sei natürlich die Verbesserung der Brotversorgung der Bevölkerung und die Produktion beträchtlicher Mengen landwirtschaftlicher Rohprodukte für industrielle Zwecke.

Getreide repräsentiert in der CSSR 40 Prozent der Kalorien in der Volksernährung und 30 Prozent in der Tierfütterung. Im Prinzip liefert das Getreide eine relativ billige Basis für die Ernährung und die Industrieproduktion — vorausgesetzt, daß es vorhanden ist. Unter internationalen politischen Gesichtspunkten wird das Getreide obendrein in Sowjeteuropa, als eine „wichtige strategische Reserve“ angesehen, um so mehr, als in der CSSR par ex-cellence nicht einmal die tägliche Versorgung ohne „kapitalistische Lieferungen“ gesichert werden kann. Deswegen ist die CSSR seit Jahren, wenn auch mit wenig Erfolg, bemüht, die Produktion von Getreide zu erhöhen. In den vergangenen Jahren wurde Getreide auf 45 bis 50 Prozent der gesamten Anbaufläche gesät. Laut Plan soll dies bis 1975 auf 56 Prozent gesteigert werden! Dies bedeutet, daß die gesamte Getreideproduktion um 1,7 Millionen Tonnen auf 9,8 Millionen erhöht werden müßte. Daurch würde natürlich die Anbaufläche für Futter- und Industriegetreide verringert werden. Dieser Ausfall soll aber durch bessere Bebauungsmethoden hintangehalten werden. Die Getreideanbaufläche wurde im Jahre 1971 um 63.000 und 1972 um 120.000 Hektar vergrößert. Landwirtschaftsexperten haben warnend darauf hingewiesen, daß die fehlende Rotation das biologische Gleichgewicht des Bodens stören werde.

Die kollektivisierte Landwirtschaft kann mit ihren Ernteergebnissen freilich wenig Staat machen. Prag

mußte 1937 nur 161.000 Tonnen Getreide importieren. Nach Einführung der kommunistischen Planwirtschaft stiegen die Getreideimporte rapid an und erreichten in kurzer Zeit einen Jahresdurchschnitt von 1,600.000 bis 1,700.000 Tonnen, also das zehnfache! 1964 war ein Rekord] ahr mit dem Import von 2,337.000 Tonnen, vorwiegend Brotgetreide. Der größte Prozentsatz davon kam aus der UdSSR. Prag kaufte jährlich auch 300.000 bis 500.000 Tonnen Getreide auf nichtsozialistischen Märkten, davon durchschnittlich 150.000 Tonnen aus Kanada.

Kurzum: die Tschechoslowakei lebt hauptsächlich vom sowjetischen Getreide. Sogar die Gottwald-Regierung versuchte 1947, als die kommunistische Machtübernahme noch nicht total war, die vollkommene Abhängigkeit von Moskau durch den Beitritt zum Marshall-Plan zu verhindern. Stalin hat dazu nein gesagt.

Kurioserweise kostet das sowjetische Importgetreide, das propagandistisch als „selbstlose Hilfe“ der Sowjetunion dargestellt wird, wesentlich mehr als das einheimische.

Wie eine Bombe schlug vor einigen Wochen die Mitteilung aus Prag ein, daß Moskau im laufenden Jahr, ungeachtet der eigenen Schwierigkeiten, 800.000 Tonnen Getreide liefern werde. Die UdSSR wäre jedoch

verpflichtet, 1,400.000 Tonnen zur Verfügung zu stellen. Die mangelnde Menge muß von der CSSR also auf westlichen Märkten gekauft werden! Leichter gesagt als getan. Woher die notwendigen Devisen zu nehmen? Prag leidet ja an chronischem Devisen- und Valutenmangel.

Kassandrarufe waren seit Mitte Jänner von verschiedenen Seiten zu vernehmen: So wies der tschechische Landwirtschaftsminister Josef Nagr darauf hin, daß die Anbaufläche von 55,5 Prozent des Agrarlandes nicht ausreichend und sie daher auf das für 1975 geplante Niveau gehoben werden müsse. Dazu kamen unvorhergesehene Schwierigkeiten durch ungewöhnliche Wetterverhältnisse in diesem Winter. Die Ernteaussichten für Wintergetreide sind in der Slowakei noch etwas günstiger als in anderen Landesteilen. Nur 44 Prozent des Getreides wird voraussichtlich erstklassig sein, 26 Prozent zweitklassig, 28 Prozent drittklassig und etwas mehr als 2 Prozent minderwertig.

Daß unter solchen unerfreulichen Auspizien die Schuldfrage aufgeworfen wird, kann nicht überraschen. So werden die sowjetischen „SK-4“-Erntekombinen für die Verluste verantwortlich gemacht, weil sie seit zehn Jahren unverändert fabriziert werden und für die ganz anderen Verhältnisse in der UdSSR konstruiert wurden. In der CSSR befinden sich nicht weniger als 13.000 von diesen Erntekombinen. Tschechoslowakische Fachleute haben unlängst offen verlangt, daß sie aus dem Verkehr gezogen und durch modernere, bessere ostdeutsche Maschinen ersetzt werden sollten. Daß es unmöglich ist, diesen Wunsch vor Erntebeginn auch nur teilweise zu erfüllen, braucht nicht hervorgehoben werden, Sowjetexperten, die für die tschechoslowakischen Ernteergebnisse verantwortlich sind, versprachen beschwichtigend und verbindlich, daß die UdSSR die Absicht habe, die tschechoslowakische Kollektivwirtschaft mit leistungsfähigeren „Niwa“- und „Kolos“-Erntekombinen zu beliefern. Vorsichtig wurde hinzugefügt, daß die ersten schon in diesem Sommer in Betrieb genommen werden könnten. Da dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein ist, bleibt Prag nichts anderes übrig, als die fehlenden Getreidemengen im Westen zu kaufen. Mon-tecuccoli behielt recht: „Zum Kriegführen braucht man Geld, Geld und noch einmal Geld“ — auch an der Agrarfront.

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