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Gute Erde

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Kennen Sie Luxemburg? Den Namen hört oder liest man fast täglich. Meist im Zusammenhang mit der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Doch was Luxemburg wirklich ist, wissen die wenigsten. Selbst die nicht, die schon einmal in Luxemburg gewesen sind. Denn im Durchschnitt bleiben die Auslandsbesucher nur ein bis zwei Tage in Luxemburg. Das ist zu wenig, um dieses Land kennenzulernen, das Jahr für Jahr von ebenso- vielen Touristen aufgesucht wird, wie es Einwohner hat — nämlich 310.000. Die meisten kommen aus Belgien und Holland. Dagegen sind von 100 Touristen nur sechs bis sieben aus Deutschland. Das ist eigentlich schade. Vielleicht beurteilen zu viele das Land nach dem Eindruck, den es auf der Landkarte macht.

Demnach ist es nur ein Klecks zwischen Deutschland, Frankreich und Belgien, der einen Staat andeutet, der an seiner längsten Stelle 93 Kilometer und an seiner breitesten 56 Kilometer mißt. Für eine Autotour ist Luxemburg also nicht geeignet, höchstfalls als Autoziel. Doch zum Wandern ist Luxemburg ein ideales Land, dessen schönste Flecken durch ein 500 Kilometer langes Netz an Wanderpfaden verbunden sind.

Wenn man Luxemburg sagt, so muß man unterscheiden zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und der Stadt Luxemburg, der Hauptstadt des Großherzogtums. Nicht als bestünde das ganze Großherzogtum nur aus einer einzigen Stadt. Es gibt sogar mehr als 70 Orte im Luxemburger Land, von denen die meisten jedoch nicht mehr als 2000 Einwohner zählen. Die Stadt Luxemburg, im 11. Jahrhundert von dem Grafen Lützelburg erbaut, gab dem Land nur den Namen. Wenn Sie sich Ihre linke Handfläche betrachten, so können Sie sich im Umriß die Gestalt des Großherzogtums vorstellen. Man kann das Land wirklich mit einer großen Hand vergleichen: die Finger sind das waldreiche Bergland der Ardennen mit schluchtartigen Tälern. Der Daumen ist die erzhaltige Rote Erde des luxemburgischen Industriereviers, der Handrücken sind die Weinberghänge entlang der Mosel. Und die Handfläche schließlich ist das Gutland — das „gute Land“ mit seinem fruchtbaren Ackerboden.

Mitten in diesem Gutland liegt die Stadt Luxemburg, hoch auf einem Felsplateau erbaut, mit vorspringenden Bastionswällen und Wachtürmchen. Einst eine der stärksten Festungen der Welt — Gibraltar des Nordens genannt. Die Festung wurde zwar im 19. Jahrhundert geschleift. Doch blieben der Stadt noch viele Festungsanlagen erhalten: in die Felsen eingesprengte Kasematten und ein 21 Kilometer langes Netz unterirdischer Gänge, die noch heute besichtigt werden können. Einzigartig ist auch die „Promenade de la Corniche" auf den alten Wällen der Festung sowie die in reizvolle Parks umgewandelten Festungsanlagen, die um die malerischen Unterstädte Luxemburgs herumführen. Luxemburg — oben auf dem Fels, unten im Tal — hat so viele Gesichter, daß man es gar nicht glauben kann, daß diese Stadt nur

75.0 Einwohner hat. Kennzeichnend sind für diese Stadt die vielen Brücken, von denen man 65 zählt. Sechs Viadukte haben eine Talmulde von 45 Meter Tiefe zu überspannen. Ein Gewirr von winkligen Gassen, geschlungenen Straßen und historischen Wällen mischen sich mit großzügig angelegten Boulevards und protzigen Villen. Kleinstadt und Weltstadt in einem. Eine Stadt ohne Industrie — tausendjährige Hauptstadt des Großherzogtums, Residenz der Großherzogin Charlotte, Sitz der Regierung und Behörden, besonders der Hohen Behörde der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl mit den bei ihr und bei der Regierung akkreditierten.Vertretern und Verbindungsstellen. . r

Luxemburg ist eine der merkwürdigsten Städte Europas, von der schon Goethe schrieb: „Hier findet sich soviel Größe mit Anmut, soviel Ernst mit Lieblichkeit verbunden...“ Luxemburg ist aber nicht nur Hauptstadt des Landes, sondern auch Bischofssitz des Bistums Luxemburg. Wer in Luxemburg nicht katholisch ist, kann nur ein Zugereister sein. Die Kirche nimmt in Luxemburg eine beherrschende Stellung ein. Der äußere Mittelpunkt des religiösen Lebens ist die im frühen 17. Jahrhundert erbaute Liebfrauenkathedrale. In der Zeit vom dritten bis zum fünften Sonntag nach Ostern pilgert das ganze Land zur Stadt Luxemburg, um das Gnadenbild der Muttergottes in der Liebfrauenkathedrale aufzusuchen. Ein Abbild dieser Muttergottesdarstellung wird noch heute im deutschen Wallfahrtsort Kevelaer verehrt. In diesen fünfzehn Tagen der Muttergottesverehrung liegt anmutiger Glanz über der Stadt. Man sollte Luxemburg wirklich in dieser Zeit erleben!

Wer von Deutschland mit der Eisenbahn nach Luxemburg fahren will, benutzt meist den Eil- zug nach Paris du Nord, der in Koblenz eingesetzt wird und durch das ganze Moseltal führt. Beim Grenzübertritt hinter Trier wechselt das Bild zunächst kaum, denn die Moselhänge mit ihren Weinstöcken ziehen sich auch weiter nach Luxemburg fort. Das luxemburgische Weinbaugelände nimmt immerhin ein Gebiet von 1250 Hektar ein, und kein Geringerer als der luxemburgische Staatsminister ist zugleich auch Weinbauminister. Ein großer Teil des Weines wird nach Belgien exportiert. Nicht weit von den Rebhängen der Mosel liegt das Staatsbad Mondorf, für Leber- und Darmkranke. Die Heilquellen von Bad Mondorf und die benachbarten festfreudigen Moselorte ziehen immerhin fünfzehn Prozent aller Feriengäste Luxemburgs an. Von den Weinhängen der Mosel fährt der Zug aus Deutschland dann ins Gutland, mit seinen fruchtbaren Aeckern, saftigen Weiden und verstreut liegenden Wäldern. Jeder fünfte Luxemburger ist Bauer und die Höfe sind meist klein. Nur dadurch ist es möglich, daß es in Luxemburg 40.000 Kleingrundbesitzer gibt. Baumstecklinge. Obst, Rosen und Fleisch sind die hauptsächlichsten Exportgüter der luxemburgischen Landwirtschaft. Das meiste davon geht nach Belgien.

Fährt man von Belgien aus nach Luxemburg, so geht die Reise durch das Ardenner B e r g 1 a n d, wo seit Jahrzehnten das Gerberhandwerk blüht und eine vielseitige Ledern ipdustrie entstehen ließ, die 86 Prozent ihrer Produktion exportiert, lieber den Ardenner Bergen eröffnen sich dem Wanderer Horizonte von märchenhafter Weite. Berühmt ist die Benediktinerabtei Echternach, die im 7. Jahrhundert vom heiligen Willibrord gegründet wurde, der dem Land den christlichen Glauben brachte. Zehntausende kommen alljährlich a m Pfingstdienstag nach Echternach, wo die weltberühmt gewordene Springprozession zum Grab des heiligen Willibrord abgehalten wird.

Den geringsten Touristenverkehr hat der Süden des Landes. Wenn man von Frankreich kommt, passiert man dieses Gebiet, das Luxemburg reich und für Europa wichtig macht: das Land der Roten Erde, wo mehr Stahl erzeugt wird als im benachbarten Saarland. Monatlich werden hier 630.000 Tonnen Eisenerz gefördert, in 30 Hochöfen zu Eisen geschmolzen, das sieben Stahlwerke zu Stahl blasen. Eine ganze Reihe moderner Walzwerke verarbeiten den Stahl dann zu Fertigprodukten. Hier im Industriesüden entstanden die einzigen Städte Luxemburgs außerhalb der Hauptstadt: Essch-sur-Alzette mit 28.000 Einwohner, Differ- dange mit 16.000 Einwohner und Dudelange mit

13.0 Einwohner. Auf der Liste der Rohstahlproduzenten steht Luxemburg an elfter Stelle in der Welt. Nur zwei Prozent der riesigen Produktion kann im Inland verbraucht werden: 98 Prozent muß exportiert werden. Der äußerst kleine Inlandsmarkt ließ den Luxemburger schon sehr früh an den Abbau seiner Zollschranken denken und einen größeren Markt suchen. Von 1842 bis zum Beginn des ersten Weltkrieges gehörte Luxemburg zur Deutschen Zollunion. 1922 schloß sich das Großherzogtum mit dem Nachbarn Belgien zu einer Wirtschaftsunion zusammen — mit einheitlicher Geldwährung. Es ist heute schon nicht mehr möglich, spezielle Luxemburger Handelsbilanzen zu bekommen: Belgien und Luxemburg sind zu einer wirtschaftlichen Einheit zusammengewachsen, ohne daß Luxemburg auch nur ein Stück seiner nationalen Unabhängigkeit eingebüßt hätte. Nach dem zweiten Weltkrieg ging man einen Schritt weiter: Belgien, die Niederlande und Luxemburg bildeten die Benelux. Die Zollunion der Benelux ist inzwischen Wirklichkeit geworden, die Wirtschaftsunion hofft man in naher Zukunft, vielleicht schon in den nächsten Monaten, zu erreichen. Die großen wirtschaftlichen Gegensätze zwischen den liberalen Ländern. Belgien und Luxemburg und dem dirigistisch gelenkten Holland haben die Vollendung der Benelux- Gemeinschaft bis jetzt um sieben Jahre verzögert. Oft hing es nur von Tomaten und Kartoffeln ab. Weit durchschlagskräftiger war dagegen der Vertrag zur ersten übernationalen vollziehenden Gewalt: der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Es bedeutet schon etwas, wenn sechs Industrieländer die Grundlage ihrer Wirtschaft, nämlich Kohle und Stahl, einer Verwaltung unterstellen, die nicht nach deutschen, französischen oder luxemburgischen Interessen darüber verfügt, sondern nach europäischen. Für Luxemburg hat diese Einrichtung noch einen besonderen Wert: das Land besitzt nicht ein Gramm Kohle in seinem Boden, und auch die Eisenerze müssen durch Importe ergänzt werden. Durch die Hohe Behörde für Kohle und Stahl wird den Luxemburgern garantiert, Kohle zu den gleichen Bedingungen einkaufen zu können wie ein Stahlwerk an der Ruhr, und Erze genau so vorteilhaft wie ein Hüttenwerk in Lothringen. Luxemburg schwebt nicht mehr in der Gefahr, zwischen den großen Wirtschaftsblöcken Deutschland und Frankreich zerrieben zu werden. Es ist ein gleichrangiger Partner geworden. Für Luxemburg ist auch ein gemeinsamer europäischer Markt nicht nur ein Vorteil, sondern ebenso Notwendigkeit wie die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl.

Luxemburg ist ein geburtenarmes Land geworden und nimmt nur noch durch die einwandernden Arbeitskräfte zu. Dadurch, daß die luxemburgischen Stahlwerke zu den modernsten Europas gehören und sehr hohe Löhne zahlen können, ist Luxemburg ein begehrtes Arbeitsland geworden. Jeder vierte luxemburgische Stahlarbeiter kommt aus Frankreich, Belgien oder Italien. In der Landwirtschaft sind es überwiegend deutsche Bauernsöhne, die den Pflug führen. Auch die luxemburgischen Fleischer sind durchweg deutsche Handwerksgesellen. Fast alle Bauarbeiter kommen dagegen aus Italien. Doch sie alle arbeiten in diesem Land unter den gleichen sozialen Bedingungen. Viele besitzen ein eigenes Haus oder können in der Stahlindustrie billig Land und Baumaterial bekommen. Wohnungsnot gibt es in Luxemburg nicht und Streiks hat es in diesem Land seit Kriegsende auch noch nicht gegeben.

Das ist also Luxemburg! Ein Land, das europäisch denkt, ohne aufzuhören, luxemburgisch zu sein. Luxemburg, das immer ein neutraler Staat gewesen ist, hat nach dem letzten Krieg die einjährige Wehrpflicht eingeführt. Innerhalb der Nato macht das zwei Infanteriebataillone aus. Doch diese zwei Infanteriebataillone mit anderen europäischen Bataillonen ergeben die Divisionen, die die Freiheit Luxemburgs und der übrigen westlichen Welt garantieren. Und die Freiheit weiß man in Luxemburg sehr hoch einzuschätzen.

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