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Seiltanz über dem Polarkreis

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„WIR HABEN HOLZ UND GRANIT.“ Der Sprecher des finnischen Reichstages zeigte,auf die Wände des Kongreßsaales, die mit kostbarem Holz schwer vertäfelt waren. Durch die Fenster konnten wir den Platz vor dem Parlamentsgebäude sehen: Granitfelsen mitten in der Stadt.

Wochen später sah ich den Reichtum Finnlands vom Flugzeug aus. Unübersehbare Wälder, endlose Ketten von Seen, schwarze Felsmassive. Beim Nachtflug preßt man die Stirn an die Scheibe, um am Lichtschein die Häuser zu entdecken, die dort unten in der Dunkelheit der Wälder an den Seeufern verloren liegen. Von oben wirkt das großartig und idyllisch; doch da ertönt die ernüchternde Stimme der Hostess: „Die Hütten dort unten gehören schon den Russen. Sie haben einmal uns gehört.“ Man weiß, die Maschine fliegt über Karelien.

Unterwegs, auf den Straßen und in den Wäldern, erkennt man, überall ist die Nähe der Sowjetunion. Am Seeufer hört man „wenn Sie sich von der Strömung treiben lassen, zwischen den beiden Inseln, kommen Sie in jenes Kardien, das heute Rußland ist“. Quer durch den Wald, wie Wegmarkierungen, sind Tafeln angebracht: „Grenzgebiet“. Auf der Brücke über den Saimaa-Kanal erfährt man: „Der Kanal ist längst tot. Er führt von hier in das Kardien der Sowjets, nach Viipure, das eine schöne und leichtlebige Stadt war. Jetzt bot man uns den Kanal zur Pacht an, totes Wasser. Kekkonen hat ihn gepachtet.“

Nirgends auf der Welt spürt man den Hauch eines feindlichen Nachbarn so stark wie in Finnland; nicht einmal in Israel, wo die Grenzberge der arabischen Staaten fast in Reichweite sind, doch fern genug, um ihre Schatten nicht über das Land zu werfen. In Finnland liegt der Schatten der Sowjets über allen Städten, Wäldern, Seen bis weit über den Polarkreis hinaus. Man könne sich wohl an den Schatten — wie an eine latente Krankheit — gewöhnen, meint man in Kardien. Doch nachbarlich werde der Umgang mit dem Nachbarn nie werden.

Ich verstand jetzt, was ich schon Im Reichstagsgebäude als Verschlüsselung empfunden hatte, als der Sprecher des Reichstages vom Granit sprach. Aber ich verstand auch, was der Finne meinte, der mit mir durch den Reichstag geführt wurde: „Über den Granit lassen sie so viel Moos wachsen, daß die Russen weich über uns gehen können und auf uns liegen.“ Und er meinte damit Kekkonen und dessen Regierung.

IN EINER ZINSKASERNE AM HAFEN von Helsinki wohnt Tanner, der führende Sozialdemokrat Finnlands und tiefe Russenfeind; Block C, 6. Stock, Tür 68. Aber durch die breiten Fenster seiner Wohnung kann man den ganzen Hafen sehen: „Bei gutem Wetter können Sie weit über den Hafen hinaussehen, bis nach Pokkala. das jetzt in-den Händen der Russen ist.“

Von Tanner weiß man, daß Lenin sich knapp vor der Revolution bei ihm verborgen hielt. Drei Jahre später, 1920, war Tanner aber schon der Feind des Sowjetstaates, den sein Gast geschaffen hatte. Die Feindschaft ist geblieben und hat Jahresringe angelegt; sie spricht, abgetönt in die Klangfarbe des Alters, aus jedem Wort:

„Sprechen wir vom Saimaa-Kanal, den Kekkonen gerade in einem Vertrag mit den Sowjets pachtete; sprechen wir von jenem Vertrag mit der Sowjetunion. Die erste Erfahrung mit Sowjetverträgen hatte ich 1920, gleich nach dem Friedensschluß mit Lenins Regierung. Kekkonen sollte sich diese Lektion durchlesen. Doch er kennt sie. Und er schließt trotzdem Verträge mit den Sowjets ab, auch solche, die nicht nötig sind.“

Der alte Mann der finnischen Sozialdemokraten meint den Pachtvertrag über den Saimaa-Kanal und wirft seinem sowjetfreundlicheren Gegenspieler aus dem bürgerlichen Lager — Staatspräsident Kekkonen — vor, daß er den toten Kanal um teures Geld gekauft hat. Doch es geht ihm nicht nur um den Pachtgroschen allein.

„Im Vertrag von 1920 hatten die Sowjets uns freie Schiffahrt auf der Newa zugestanden, zum Ladoga-See, der damals zur Hälfte Finnland gehörte. Kaum zehn finnische Schiffe schwammen auf der Newa zum Ladoga-See, dann sperrten die Russen die Schiffahrt für uns und dabei blieb es. Der Saimaa-Kanal kam in ihre Hände, als sie sich die besten Teile Kareliens abschnitten. Und als „Geschenk“ verpachteten sie ihn; die Fahrrinne, überwachsen und unbrauchbar geworden, 30 Meter Korridor zur Rechten, 30 Meter Korridor zur Linken. Der Pachtzins ist so hoch, daß Kekkonen noch nicht wagte, die Höhe mitzuteilen. Wenn wir dann die Millionen hineinstecken, die notwendig sind, um aus einer melancholischen Kanallandschaft den Transportkanal zu machen, haben wir einen Korridor in Pacht: schmal, verwundbar, der über Nacht gesperrt werden kann. Korridore haben einen gefährlichen Beigeschmack in der internationalen Politik.“

Tanner sitzt in seinem Schaukelstuhl, alt, sehr hart, fast schneidend sachlich. Sein Deutsch ist fehlerfrei.

„Kein Mensch weiß, warum Kekkonen das kostspielige und problematische Geschenk der Sowjets annimmt. Will er den Sowjets einen Gefallen erweisen, so ist das Danke des Nachbarn kaum hörbar und kurz.“

Tanners Sätze fand ich bestätigt, als ich mit den Menschen am finnischen Teil des Saimaa-Kanales sprach, mit Industriellen, Ingenieuren, Arbeitern und Bauern. Kein einziger wollte den Kanal, und viele meinten, in finnischer Pacht sei er ein Pfand mehr in den Händen des ungemütlichen Nachbarn.

„Ich weiß, wie es mit dem Winterkrieg war“, sagte ich Tanner. „Den Krieg, den sie allein gegen die Ubermacht führten. Aber ich weiß nicht, wie es später kam.“ Tanner verstand, daß ich den Krieg meinte, den die Finnen an der Seite der Deutschen geführt hatten; mit ihm, dem Sozialdemokraten als Minister.

„Sie können nicht von zwei Kriegen sprechen, dem Winterkrieg, den wir allein durchkämpften und dem anderen, an der Seite der Nazi. Für uns gab es nur einen Krieg; den Winterkrieg, in dem uns ein Teil des Landes genommen wurde, und den Fort-seftfungskrieg um unsere Gebiete. Wir kämpften nie gemeinsam mit den Nazi. Wir hatten bloß das Pech, denselben Feind zu haben. Als wir das Ziel erreicht hatten, das wir erreichen mußten, gab es für uns keinen Krieg mehr und unsere Soldaten blieben stehen. Dann wollten die Deutschen uns ihren Krieg aufzwingen und mußten bitter erfahren, daß ihr Krieg nicht der unsere war.“

Unzählige Anekdoten mit sehr herbem Beigeschmack gibt es in Helsinki noch über die Deutschen. Marschall Mannerheim hatte sich lange geweigert, Hitler zu treffen. Als es dann doch sein mußte, schickte er einen jüdischen Offizier in das deutsche Hauptquartier. Auf Vorhaltungen der Deutschen sagte der Marschall: „Der Oberst, den ich sandte, ist ein Jude? Ich wußte es nicht. Da Sie es mir mitteilen, weiß ich es. Aber das ändert nichts an seinem Rang und gar nichts an dem Auftrag, den ich ihm als finni-. sehen Offizier gab.“

DIE NACHBARSCHAFT DER SOWJETS ist überall spürbar; die Vergangenheit des Krieges und des Friedensvertrages ist überall Gegenwart. 400.000 von vier Millionen Finnen fielen. 400.000 flohen nach diesem Frieden aus jenem Teil Finnlands, der Sowjet-Kardien geworden war; nur 40 Finnen blieben dort zurück. 400.000 gefallen, 400.000 Flüchtlinge, die anderen, kaum mehr als drei Millionen,trugen den Verlust des Krieges und die Last der Friedeiisbedingungen. Die Last trugen sie vorbildlich. Als nach dem Winterkrieg die Flüchtlinge aus Karelien strömten, mußte jeder Finne zehn Prozent seines gesamten Besitzes geben. Dem Zusammenbruch von 1945 folgte ein zweiter Aderlaß von zehn Prozent, sofort und bar; Bett, Kasten. Hemd, alles wurde als Vermögen bewertet, abgeschätzt und mußte abgegolten werden. So gab es zwei Jahre nach der Flucht der 400.000 aus Karelien in Finnland keine Flüchtlingsfrage mehr und die ungeheuren Reparationen wurden ohne einen Tag Terminverlust gezahlt. Doch die Spuren des Aderlasses und der Reparationen sind überall zu erkennen und prägen das tägliche Leben, die Wirtschaft, die Politik Finnlands.

Die Hilfe an die Flüchtlinge zahlen die Finnen noch heute mit ihrem Lebensstandard, an jedem Tag und bei jeder Mahlzeit. Die Schaufenster der Geschäfte sind wie bei uns in den Kinderjahren der Prosperität, die Preise um mehr als 75 Prozent, die Löhne nur um 30 bis 60 Prozent höher. Um die Reparationslieferungen pünktlich abstatten zu können, wurde eine Metallindustrie hochgetrieben, die viel zu groß ist für dieses kleine Land am Polarkreis. Sie muß heute froh und dankbar sein, daß sie 80 Prozent ihrer Produktion in die UdSSR exportieren kann. Der Schatten des sowjetischen Nachbarn liegt über der finnischen Landschaft und über der finnischen Politik.

DIE GRÖSSTE UND AM BESTEN ORGANISIERTE Partei Finnlands ist die kommunistische, und dennoch wählen nur 22 Prozent kommunistisch. Man müßte annehmen, daß der Druck der Sowjets von außen und der Druck der Kommunisten von innen Finnland schon längst über die Schwelle des Kommunismus trieb. Diese Annahme ist falsch, denn sie rechnet nicht mit der Eigenart der finnischen Kommunisten. „Hauskommunisten“ nennt man sie dort, und die meisten von ihnen kämpften im Winterkrieg brav gegen Moskau. Die finnischen Kommunisten sind in den Städten des Südens Traditionskommunisten, in den lappländischen Savannen des schweren Lebens utopische Kommunisten.

Nach der russischen Revolution wai Finnland von einem Bürgerkrieg zer rissen; in den dreißiger Jahren gab es die Lappo-Bewegung und die faschistische Lappo-Regierung. Der weiße Terror schmeckte im nordischen Finnland nicht besser als im mitteleuropäischen Ungarn, und die Finnen haben ein gutes Gedächtnis. Die Familien der von den Weißen Getöteten blieben Kommunisten; die Söhne und Töchter sind es noch heute; doch ihr Kommunismus hat sich Moskau entfremdet und Finnland zugewandt. Dann gibt es die Kommunisten in den entlegenen Dörfern der lappländischen Einsamkeit. Der Name des Kommunismus von heute ist noch nicht über die tausen-den Kilometer Schnee und Eis gedrungen, und der Sowjetstern glänzt dort noch so utopisch rot wie in den ersten zwanziger Jahren. ^

„FROSTNACHT“ NENNEN DIE FINNEN die Nacht im vergangenen Spätherbst, da Chruschtschow der finnischen Regierung ein Ultimatum servierte. In diesem Ultimatum erinnert

Chruschtschow daran, daß der Friedensvertrag den Sowjets das Recht auf die Kontrolle über die finnische Armee zugestehe, wenn die Sowjetunion sich bedroht fühlt. Und sie fühlte sich damals bedroht, so schrieb Chruschtschow, durch die NATO in Skandinavien. Damals glaubten viele Finnen, daß die Frostnacht der Auftakt zu einem zweiten Winterkrieg sei. Doch Kekkonen flog nach Novosibirsk zu Chruschtschow. Die durch Unabhängigkeitstendenzen in Moskau unliebsam gewordene Regierung fiel und eine neue Regierung unter Führung der neutralistischen Agrarpartei trat in Helsinki ihr Amt an. Chruschtschows Ultimatum hatte seinen Zweck erfüllt. Der zweite Winterkrieg brach nicht aus. Viele glauben allerdings, er wäre ohne den Canossaflug Kekkonens nach Novosibirsk auch nicht ausgebrochen.

Wenn ich fragte: „Wären die Finnen bereit, den Krieg zu einem Winterkrieg, wie 1939, zu machen?“ wußten viele Politiker keine Antwort.

Von den Männern in Finnisch-Kare-lien, Ingenieure, Förster, Kaufleute, antworteten fast alle wie der Pilot der Kartir-Maschine: ..Als 1939 die Russen kamen, waren plötzlich alle Probleme fort, und der Widerstand kam fast von selbst. Als 1944 die Deutschen sich in unserem Land festsetzen wollten, war es genauso. Unsere Politiker können gut Seil tanzen. Aber wenn das Sei! zu Ende ist, gibt es kein Seiltanzen mehr.“

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