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Der elfte Russe

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Wahrscheinlich gibt es keinen heute regierenden Staatsmann der ersten Garnitur, der auf dem mitunter recht gefährlichen internationalen Parkett solche Flexibilität bewiesen hat wie der Präsident der Republik Finnland, Dr. Urho Kekkonen. Im vergangenen Jahr hat eine Reihe von widerspruchsvollen Handlungen und Unterlassungen die Frage aufkommen lassen, ob das Staatsschiff Finnlands wirklich vom Geiste höherer Einsicht gesteuert wird, oder ob sich hier nicht doch eine gute Portion Exzentrizität um jeden Preis dokumentiert, die man schwer mit dem Signum staatsmännischer Weisheit versehen kann.

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Wahrscheinlich gibt es keinen heute regierenden Staatsmann der ersten Garnitur, der auf dem mitunter recht gefährlichen internationalen Parkett solche Flexibilität bewiesen hat wie der Präsident der Republik Finnland, Dr. Urho Kekkonen. Im vergangenen Jahr hat eine Reihe von widerspruchsvollen Handlungen und Unterlassungen die Frage aufkommen lassen, ob das Staatsschiff Finnlands wirklich vom Geiste höherer Einsicht gesteuert wird, oder ob sich hier nicht doch eine gute Portion Exzentrizität um jeden Preis dokumentiert, die man schwer mit dem Signum staatsmännischer Weisheit versehen kann.

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Finnland hat in der letzten Zeit die Bildung der NORDEK befürwortet, hat sie kurz darauf verworfen, und später wiederum für möglich gehalten. Es hat enge Beziehungen zur EWG angestrebt, doch als ihm diese im Rahmen eines Handelsvertrages zugesagt worden waren, hat es diesen Vertrag nicht unterzeichnet. Es hat als erstes westeuropäisches Land diplomatische Beziehungen zur DDR aufgenommen, obwohl die formellen Beziehungen zur Bundesrepublik noch nicht jenen Grad von Ubereinkommen erreicht hatten, der früher als notwendig bezeichnet worden war. Nun hat Finnlands Präsident Kekkonen im Frühjahr des Jahres 1972 zugesagt, die Last der Präsidentschaft noch einmal übernehmen zu wollen und im Amt zu bleiben.

Widersprüche? Gewiß, so kann man es bezeichnen, wenn man davon absieht, daß finnische Politik eben unter ganz besonderen Bedingungen gemacht wird. Man kann auch dieselben Erscheinungen völlig anders deuten. Was in den Augen des einen Beobachters als Sprunghaftigkeit erscheint, wird in denen eines anderen zur Anpassungsfähigkeit an geänderte Situationen.

Präsident Kekkonen hat sich im Frühjahr 1972 bereit erklärt, sein Amt, nach Ablauf der jetzigen Mandatsperiode im März 1974, noch einmal zu übernehmen. Seine Bedingung hiefür war eine weitere Amtsdauer von nur vier Jahren (gegenüber den jetzigen sechs Jahren), und der Verzicht auf einen aufreibenden Elektronen-Wahlkampf, was wiederum ein Sondergesetz, dem fünf Sechstel aller Abgeordneten zustimmen müssen, voraussetzt. Das Alter und ein gerüttelt Maß an Arbeit machen diese Bedingungen verständlich. Obgleich nicht der geringste Zweifel daran besteht, daß Kekkonen auch in einer allgemeinen freien Wahl wiedergewählt werden würde, bezeichnete die Partei der Konservativen ein solches Verfahren seinem Wesen nach als Vergehen gegen die Demokratie.

Um die Reaktionen Kekkonens zu verstehen, muß. man wissen, daß einst auch Marschall Mannerheim durch ein derartiges Ausnahmegesetz, die „Lex Mannerheim“, die Würde der Präsidentschaft übertragen worden ist, daß dies also in der finnischen Geschichte keinen Präzedenzfall darstellt.

Der junge Kalevi Sorsa, der Präsident Kekkonen zum Besuch der Jubiläumsfeierlichkeiten in Moskau begleitete, schwelgte nach seiner Rückkehr nach Helsinki in Schilderungen des „Respekts“, den die Herren im Kreml Kekkonens Darlegungen über die Entwicklung der finnisch-sowjetischen Beziehungen entgegengebracht hätten. Sorsa, Finnlands jüngster Regierungschef, erklärte sich vor allem beeindruckt von der Offenheit der Aussprache bei diesem dreistündigen Gespräch.

Man kann schwer der Versuchung widerstehen, bei der Erklärung der Politik Kekkonens — der ja auf Grund der Verfassung auch für Finnlands Außenpolitik verantwortlich ist — an jene Situation zu erinnern, bei der die Taktik dieses Staatsmannes gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Osten am deutlichsten erkennbar wurde; wir meinen die berüchtigte „Notenkrise“ im Spätherbst 1961.

Die Regierung der Sowjetunion hatte am 30. Oktober 1961 am selben Tag, an welchem vor der Küste des Eismeeres eine 50-Megatonnen-Bombe gezündet wurde — militärische Konsultationen auf Grund des Freundschafts- und Beistandspaktes verlangt. Als Begründung führte man die westdeutsche Aufrüstung, die Forderung deutscher Generäle nach einer Aufrüstung mit Kernwaffen und die angebliche Bedrohung der nordischen Länder durch Westdeutschland und seine NATO-Ver-bündeten an. Kekkonen befand sich auf einer Reise durch Amerika und war eben von dort nach Hawaii geflogen. Die Welt erinnerte sich an sehr ähnliche Umstände in der CSSR im Jahre 1948 und in Ungarn Anno 1956. Man befürchtete das Schlimmste, und von allen Teilen der Welt strömten bereits Berichterstatter nach Finnland ...

Was tat in dieser Situation Kekkonen? Auf eine dahingehende Frage antwortete er später einmal, er sei zuerst schwimmen gegangen und habe sich jene Ruhepause gegönnt, die in seinem Programm eingeplant gewesen sei. Erst kurz nach seiner Rückkehr — es war der 5. November — erklärte der Präsident dann schärfer als zuvor, daß Finnland gewillt sei, Freiheit und Neutralität bis zum letzten Atemzug zu verteidigen. Er warnte sein Volk, sich in einer solchen Stunde von „veralteten Emotionen und der Glut von Instinkten“ leiten zu lassen. Schließlich kam es in Nowosibirsk zur Begegnung mit Chruschtschow, bei der es — nach einer späteren finnischen Darstellung — „keineswegs zu einem finnischen Nein zu den russischen Vorstellungen, wohl aber zu einem russischen Ja zu den finnischen Anschauungen“ gekommen sei. Und das war bei vielen kritischen Gelegenheiten das Ziel Kekkonens.

Man kann es auch anders sagen. Der Dichter Väinö Linna drückt es in seinem Roman „Kreuze in Kare-lien“ folgendermaßen aus: „Ein Finne kann wohl mit zehn Russen fertig werden, doch was soll er tun, wenn der elfte auftaucht?“ ... Das — und nichts anderes — ist die Lebensfrage Finnlands.

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