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Westliche Winde über Suomi

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Finnland ist jenes Land im Norden, dem in den Augen eines politischen Beobachters trotz der scheinbaren Einfachheit seiner Verhältnisse immer ein Rest des Schwerverständlichen und Unerklärlichen anhaftet. Finnlands Volk, seine Parteien und seine Regierung handeln in einer bestimmten Situation oft anders, als sie nach Meinung eines Mitteleuropäers handeln müßten. Das verunsacht manche Irritation, gibt jedoch auch der Beobachtung dieses kleinen und lebenstüchtigen Volkes im äußersten nordöstlichen Winkel Westeuropas einen besonderen Reiz: Neben den Spekulationen über seine Herkunft, die sich im Dunkel der Geschichte verliert, stehen die oft sehr wenig zutreffenden Kommentare über eine verwirrende und widerspruchsvolle Gegenwart.

Die Widersprüche gibt es in vielen Bereichen, im Verhältnis zum Westen, in den Beziehungen zum Osten und vor allem in der Tagespolitik, die sich ständig vor die Aufgabe gestellt sieht, zwischen den großen Machtblöcken einen Fußbreit Lebensraum und ein ausreichendes Maß Handlungsfreiheit zu behaupten. Die Grenzlandrolle zwischen der slawischen Welt und dem demokratischen Skandinavien verlangt ein ständiges Lavieren und immer neue Entscheidungen, von denen jede schicksalsschwere Bedeutung haben kann.

In den letzten Monaten gab es einige politische Ereignisse, die für das politische Leben Finnlands sehr bedeutsam waren: Die Machtverschiebung in Moskau, die Spaltungserscheinungen im kommunistischen Lager, der Regierungswechsel in London und die stattgefundenen Wahlen in den skandinavischen Ländern, nicht zuletzt auch die eigenen Kommunalwahlen. Alle diese Geschehnisse hatten Folgewirkungen, die bereits jetzt im täglichen Leben des finnischen Volkes erkennbar sind und die in der nächsten Zukunft sich noch stärker bemerkbar machen werden.

Die Wahlen in Dänemark, Schweden und in einem Teil Norwegens brachten den regierenden Arbeiterparteien keineswegs die erhofften Mandatsgewinne, sie verstärkten im Gegenteil ziemlich unerwartet die Positionen der liberalen Mittelparteien. Bei den führenden Sozialdemokraten war die Enttäuschung darüber ziemlich groß, nichtsdestowenigerwurde in allen drei Ländern bestätigt, daß die Arbeiterparteien immer noch mit weitem Vorsprung an der Spitze lagen und jeder Spekulation auf einen Wechsel in der Staatsführung der reale Untergrund fehlte — sofern es nicht zu einem Zusammenschluß im bürgerlichen Lager kommen sollte! Wie in den anderen Ländern kam es auch sofort in Finnland zu derartigen Vorschlägen. Zu gleicher Zeit unternahm Staatspräsident Kekkonen seinen bisher bedeutungsvollsten Versuch, die Sozialdemokraten regierungsreif zu machen.

Das Angebot des Präsidenten an die Sozialdemokraten war schon bemerkenswert durch die äußeren Umstände, unter denen es erfolgte; Kekkonen hätte tatsächlich kein Wort zu sagen brauchen, und in Finnland hätte man trotzdem verstanden, daß der politische Wind aus einer anderen Richtung zu wehen begann.

Die politischen Beobachter in Finnland kennen nicht einfach eine

Hauptstadt Helsinki, sondern ein „rotes“ und ein „bürgerliches“ , früher „weißes“ Helsinki. Kronohagen ist die Hochburg des Bürgertums, Broholmen ist das Kraftzentrum der „Roten ; das waren durch lange Zeit zwei feindlich einander gegenüberliegende Welten. Beide Stadtteile verbindet die Lange Brücke. Auf Broholmen liegen die Zentralsekretariate der Gewerkschaftsorganisationen, der Sozialdemokratischen Partei, die Redaktion ihres Zentralorganes, die Reichszentrale der Kommunisten und die Redaktion ihrer Parteizeitung. Dort liegt auch das rote Volkshaus, und im Oktober 1964 geschah das Denkwürdige, daß zum erstenmal ein Präsident Finnlands über die Lange Brücke fuhr, um im roten Volkshaus, in der Höhle seiner ärgsten Widersacher, eine Rede zu halten, die in der Hauptsache nichts anderes war als eine schonungslose, an die Extremisten in beiden Lagern gerichtete Kapuzinerpredigt!

Kekkonen ist ebenso Staatspräsident wie immer noch Parteipolitiker, es ist sinnlos, diesen Tatbestand zu verleugnen'. Doch kein Parteipoliti-' ker der Rechten und kein Staatspräsident hätte sich jemals einen solchen Auftritt leisten können. Deshalb war die erste Reaktion des Publikums aus allen Lagern fassungsloses Erstaunen bis zur Bestürzung.

Während seines Vortrages, die als „Rede an die Bourbonen“ in die Geschichte eingehen dürfte, erzählte Kekkonen auch eine kleine Geschichte, die die Schwierigkeiten, mit denen ein finnischer Staatsmann bei der Handhabung der Beziehungen zum Osten fertig werden muß, recht gut beleuchtet:

„Als ich einmal auf Urlaub nach Rußland fahren sollte“ , erzählte der Präsident, „suchte mich ein Konservativer, der in der Regierung saß, auf und gab seinen Befürchtungen Ausdruck, daß man mich möglicherweise zwingen werde, weitgehende russische Forderungen zu erfüllen. Ich war niemals gezwungen, nach Moskau zu fahren, um dort etwas zu geben, antwortete ich ihm beruhigend, sondern ich habe dort immer etwas bekommen! Und sollte ich einmal den Verdacht haben, daß ich gezwungen sein würde, etwas zu geben, dann habe ich so viel politische Vernunft, daß ich nicht hinfahren, sondern statt dessen dich hinschicken würde!

Kekkonens Vortrag wurde in allen Besprechungen als eine scharfe Verurteilung des rechten Flügels in der sozialdemokratischen Partei verstanden, der von Lesfcinen und dem Parteisekretär Pitniski repräsentiert wird und der jedes Eingehen auf die Wünsche Moskaus ablehnt. Diese „Bourbonen“ Finnlands“ , wie der Präsident sie nannte, seien eine „Armee von Gespenstern“ , die Finnlands Außenpolitik ständig angreife und dem Ausland ein falsches Bild von der Situation Finnlands gebe. Doch auch die Vertreter der äußersten Rechten bekamen manche bittere Wahrheit zu hören und wurden aufgefordert, im Interesse des Staates, die Kluft zu überbrücken, die zwischen rechts und links noch besteht.

Diese Rede des Staatspräsidenten Im roten Volkshaus zu Helsinki gab jenen Kräften einen neuen Auftrieb, die teils für eine Versöhnung im sozialdemokratischen Lager, yteils für eine Zusammenarbeit mit den bürgerlichen Mittelparteien eintreten. Der Sprecher dieser Gruppe ist der junge Doktor der Soziologie, Pekka Kuusi, den etwas leicht beeinflußbare Optimisten als einen neuen Stern am politischen Himmel Finnlands bezeichnen. Kuusi trat erst in diesem Jahr der sozialdemokratischen Partei bei und erhielt in der Rede des Präsidenten einen sehr freundschaftlichen und ermunternden Klaps auf die Schulter. Was verursachte dieses Lob vor aller Welt?

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