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Kleines Wunder am Rand der Welt

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Die Bezeichnung „Wirtschaftswunder“ ist allzu oft und allzu leichtfertig mißbraucht worden, als daß man es wagen könnte, sie ohne Bedenken auf die Situation eines Landes in unserer Zeit anzuwenden. Dieses Wort drängt sich aber geradezu auf, wenn man die wirtschaftliche Entwicklung Finnlands mit jener in einigen anderen Ländern vergleicht.

Bei solchen Vergleichen schneidet Finnland schon deshalb besser ab, weil man sich in diesem Lande über die Größe der zu bewältigenden wirtschaftlichen- und übrigens auch der politischen Probleme niemals Illusionen hingegeben hat. Von mancherlei Gefahren umgeben, führte man ein entbehrungsreiches, ständig von Restriktionen aller Art eingeengtes Leben.

Die Finnen versuchten aus dem recht armen Land, das bis in die Nachkriegszeit hinein fast ausschließlich von seinem mageren Ak-kerboden und den kargen Wäldern leben mußte, das Bestmöglichste herauszuholen. Trotzdem mußten sie zusehen, wie Hunderttausende der Söhne und Töchter des Landes in ihren besten Lebensjahren sich in anderen Ländern ihr Brot verdienen gingen.

160.000 Finnen verließen allein in den Notjahren 1901 bis 1910 ihre Heimat, in den Zwanzigerjahren waren es an die 60.000, und nach dem 'Zweiten Weltkrieg sind etwa 300.000 Finnen nach Schweden ausgewandert. Dabei handelte es sich immer entweder um die arbeitsfähigsten oder die am besten ausgebildeten Menschen. Dieser Aderlaß mußte sich auf die Lebenskraft .des nur<4,6-Millionen , Einwohner . zählenden Landes auswirken.

Es gibt in der finnischen Sprache ein schwerübersetzbares Wort, das eine Lebenshaltung umschreibt, die den Finnen geholfen hat, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden: „Sisu“. Es bedeutet Zähigkeit, Ausdauer, Hartnäckigkeit, Mut und Illusionsfreiheit zugleich. Ohne „Sisu“ hätte man die Perioden der schweren Not, von denen man so oft heimgesucht worden ist, nicht überstehen, seine Freiheit und Unabhängigkeit nach dem unglücklichen Krieg gegen die Sowjetunion nicht erhalten können.

Durch Einschränkungen im Verbrauch und eine kluge Handelspolitik konnte die wirtschaftliche Situation in den letzten zwei Jahren stark verbessert werden. 1978 stieg der

Wert der Exporte um 15 Prozent auf 35,2 Milliarden Finnmark, was zu einem Uberschuß im Außenhandel von 2,9 Milliarden führte. Die holzverarbeitende und die noch recht junge chemische Industrie lagen dabei mit Ausfuhrerhöhungen von annähernd 17 Prozent an der Spitze.

Die industrielle Produktion lag im ersten Quartal 1979 um 7 Prozent über dem Stand des Vorjahres. Die mengenmäßige Erhöhung der Ausfuhren betrug im ersten Jahresviertel 13 Prozent. Da die Preise der Ausfuhrwaren nun um etwa 11 Prozent höher liegen als im Vorjahr, erwartet man auch für das laufende Jahr ein recht gutes Ergebnis des Außenhandels.

Auch wenn für das zweite Halbjahr eine Verlangsamung der Exportsteigerung, möglicherweise auch eine Stabilisierung auf hohem Niveau, erwartet werden kann, dürfte das Jahr 1979 eines der besten Wirtschaftsjahre Finnlands in der Nachkriegszeit werden. Eine Abschwä-

chung wird lediglich im Handel mit den Oststaaten befürchtet.

Sowohl die Zahl der Arbeitslosen wie auch der Kurzarbeiter ist markant zurückgegangen: der Prozentanteil der Arbeitslosen hat sich von 7,5 auf 6,5 Prozent vermindert und dürfte im zweiten Halbjahr unter 6 Prozent absinken, auch die Zahl der ledigen Stellen hat deutlich zugenommen.

Alles in allem genommen kann Finnland im Vergleich mit allen anderen OECD-Ländern auf die stärkste Verbesserung des Außenhandels in den letzten zwölf Monaten hinweisen, was allerdings auch schon wieder zu einer starken Steigerung der Nachfrage auf dem Verbrauchermarkt führt.

Es gibt nicht wenige im Norden ansässige Beobachter und Freunde Finnlands, die den imponierenden wirtschaftlichen Aufbau Finnlands auf die Stabilität der politischen Verhältnisse in diesem Lande und die starke Staatsführung durch seinen Präsidenten, Dr. Urho Kekkonen, zurückführen.

Gewiß, es gibt Gegensätze im politischen Lager, und die Parteien schlagen oft recht hart aufeinander los. Doch in Wesentlichen Dingen, so der neutralen bündnisfreien Stellung Finnlands zwischen Ost “und West und einem gutnachbarlichen Verhältnis zum großen Nachbarn' im Osten, ist man sich einig.

Finnland liegt in einem engen nordwestlichen Winkel des riesigen euro-asiatischen Festlandblockes und ist unmittelbarer Nachbar der mächtigen Sowjetunion. Obwohl Urho Kekkonen im unglückseligen Bürgerkrieg nach dem Ersten Weltkrieg auf der Seite der „Weißen“ gekämpft hat, kam er bald zur Uberzeugung, daß die Erhaltung der Unabhängigkeit Finnlands nur in Zusammenarbeit mit den Verlierern in diesem Bürgerkrieg, den Sozialisten und den Kommunisten, möglich sein würde.

Diese beiden Parteien können sich nach wie vor auf 40 bis 50 Prozent der Bevölkerung stützen und ohne sie kann, praktisch genommen, nicht regiert werden. Die letzte Reichstagswahl brachte wohl den Konservativen eine von 35 auf 47 erhöhte Mandatszahl, doch der Versuch dieser Partei, eine Regierung unter ihrer Führung zustande zu bringen, scheiterte. Die 87 Mandate der sozialistischen Parteien und die 36 Mandate der Centerpartei (der ehemaligen Partei Kekkonens) sind entscheidend für die politische Richtung des Landes.

Kontinentale Kritiker der Außenpolitik Finnlands übersehen oft, daß Kekkonen schon lange vor der Beendigung des Zweiten Weltkrieges zur Uberzeugung gekommen war, daß die Beziehungen Finnlands zur Sowjetunion nicht mit Waffengewalt und in der Atmosphäre eines ständigen Mißtrauens geregelt werden können.

Das in Deutschland entstandene herabsetzende und beleidigende Schlagwort „Finnlandisierung“ unterstellt Finnland, es führe gegenüber der Sowjetunion eine untertänige und servile Außenpolitik, die eines freien Volkes unwürdig sei. Das ist eine überaus ungerechte und irreführende Darstellung, auch dann noch, wenn sie ein amerikanischer Staatsmann glaubt übernehmen zu müssen.

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