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Finnischer Aderlaß

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Wenn irgendwo von den politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten Finnlands gesprochen wird, dann denkt man in 99 von 100 Fällen an die Nachbarschaft zur Sowjetunion, den Freundschafts- und Beistandspakt mit dem mächtigen Nachbarn und die überaus exponierte Lage des kleinen Landes zwischen den großen Blöcken. Kaum jemand kommt auf die Idee, daß wirklich ernste Probleme aus der Nachbarschaft zu Schweden entstehen könnten. Tatsächlich aber überschatten die Fragen, die aus den engen finnisch-schwedischen Beziehungen entstanden sind, alles andere.

Die Auswanderung von Finnen im besten arbeitsfähigen Alter nach Schweden ist zu einem schweren wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Problem geworden, das mittlerweile lebensgefährlichen Umfang für Finnland erreicht hat. Und es ist sonderbarerweise die weitgehende wirtschaftliche und soziale Integration der kleinen nordeuropäischen Länder, die den Stein ins Rollen gebracht hat. In den sechziger Jahren hatte Finnland einen Nettoverlust von 170.000 Personen zu verzeichnen, die fast alle nach Schweden ausgewandert sind. Dieser Menschenstrom über die Ostsee hat sich von Jahr zu Jahr verstärkt. 1969 betrug der Nettoverlust (Auswanderer minus Zahl der Rückwanderer) 36.000 Personen, wobei 32.500 nach Schweden gingen… 1970 betrug die Nettoauswanderung 44.000 Personen.

Doppelt so viel Lohn in Schweden

Die Ursache der Auswanderung ist natürlich die hohe Arbeitslosigkeit in Finnland und vor allem das weitaus höhere Lohnniveau in den benachbarten nordischen Ländern. Die schwedischen Löhne sind um 50 bis 80 Prozent höher als die finnischen und nach Abschluß der jetzt in Schweden geführten Tarifverhandlungen werden sie etwa doppelt so hoch sein. Wie von einer Massenpsychose ergriffen, geben tausende Einwohner der finnischen Waldgebiete Haus und Hof auf und ziehen nach Westen. Da viele keinerlei Erfahrung mit industrieller Arbeit besitzen, sind persönliche Tragödien unvermeidlich.

Fehlende eigene Sprachkenntnisse und die außerordentliche Schwierigkeit der finnischen Sprache tragen zum Entstehen zahlreicher Mißverständnisse bei. Fast alle Auswanderer denken nur daran, daß man in Schweden 12 bis 15 Kronen in der Stunde verdienen kann, während man in Finnland kaum 7 Kronen die Stunde erhält.

Aber auch für Schweden, so sehr es die finnischen Arbeitskräfte braucht, -bedeutet das Entstehen eines „schwarzen Arbeitsmarktes“ und das Aufkommen von Vermittlungsmethoden, die an Menschenhandel grenzen, neue Probleme.

Trotzdem Umweltverschmutzung

Finnlands Industrialisierung beschränkt sich auf wenige Schwerpunkte, einer davon ist etwa die Stadt Tampere nördlich von Helsinki, wo in den letzten Jahren eine

Konzentration zahlreicher Betriebe vorwiegend der Leicht- und Konsumgüterindustrie entwickelt wurde. Trotz der schwachen Industrialisierung ist aber vor allem in den südlicheren Teilen Finnlands ein großer Teil von Finnlands herrlichen Seen bereits stark verschmutzt — durch die Papierindustrie.

Es besteht keinerlei Aussicht, daß Finnland in absehbarer Zeit den Vorsprung Schwedens auf industriellem und sozialem Gebiet einholen kann. Um der Auswanderung Einhalt zu gebieten, müßte Finnland seine industriellen Investitionen vervielfachen. Um das tun zu können, müßte es mehr Eiigenkapital aufbringen als bisher, noch mehr Anleihen im Ausland aufnehmen als in den letzten Jahren. Weder das eine noch das andere ist möglich, denn der Zinsendienst erfordert schon jetzt hohe Leistungen, die zum Teil nur durch neue, meist kurzfristige Anleihen aufgebracht werden können. Dämpft man aber den Ver brauch im eigenen Land, um mehr Eigenkapital zu schaffen, wandern noch mehr Leute aus als bisher.

Das ist in den letzten zwei Jahren als Folge der Sanierungspolitik der Regierung geschehen. Gelänge es wider Erwarten, den industriellen Ausbau zu beschleunigen und die Produktion zu rationalisieren, würden weitere Arbeitskräfte freigestellt. Und man hat schon jetzt eine Arbeitslosenquote von etwa 4 bis 5 Prozent.

Erleichterung wįirde eine hochaktive Handelsbilanz bringen, doch während 1969 das Defizit im Außenhandel erst 160 Millionen Finnmark betrug, stieg es 1970 auf 1.390 Millionen Finnmark. Allein^ das Defizit im Handel mit der Bundesrepublik’ erhöhte sich von 550 auf 807 Mil-, lionen Finnmark, der Handel mit den übrigen Ländern der EWG brachte Finnland dagegen einen Überschuß von etwa 10 Millionen. Der vielzitierte Handel mit dem Ostblock erreichte nicht mehr als 16,2 Prozent des Gesamthandels und brachte einen Passivsaldo von 240 Millionen.

Der gemeinsame Arbeitsmarkt mit den nordischen Ländern, die Anziehungskraft des schwedischen Wohlfahrtsstaates (dessen Schattenseiten der Einwanderer erst später entdeckt!), der Freihandel ohne wesentliche Restriktionen, der Mangel an eigenem Kapital, die schwere Umwandlung von der vorwiegend land- und forstwirtschaftlichen Produktion zum Industriestaat schaffen Probleme, mit deren Lösung erst gerechnet werden kann, wenn die Industrie praktisch alle arbeitsfähigen Finnen beschäftigen kann. Da die riesigen Mittel, die erforderlich wären, um allen jetzt noch im Lande wohnenden Finnen Arbeit zu geben, nicht aufgebracht werden können, erscheint die weitere Abwanderung von hunderttausenden Menschen als einzige Möglichkeit, um eine Stabilisierung zu erreichen. Dabei handelt es sich aber um einen Aderlaß, der Finnlands Entwicklung zum Industriestaat gefährdet und den Abstand zu den Nachbarländern eher vergrößert als vermindert

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