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Eine Kirche am äußersten Rand Europas

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Die finnische Bevölkerung ist größtenteils eine Stadtbevölkerung. Diese in den letzten Jahrzehnten erfolgte Umschichtung blieb auch für die Kirche nicht ohne Folgen. Wenn hier von Kirche gesprochen wird, dann ist damit immer die evangelisch-lutherische Kirche Finnlands gemeint. Dir gehören von den 4,9 Millionen Einwohnern mehr als 4,3 Millionen Finnen (siehe Graphik) an.

Die Abwanderung in die Städte unterstützte den im Gang be-findlichen Säkularisierungsprozeß der finnischen Gesellschaft nachhaltig. Die Ablösung von den tradi-tionellen Bezugsgruppen bedeutete für viele auch eine Entfremdung von traditionellen christlichen Werten. Trotz allem, so gibt sich die finnische evangelische Kirche über-zeugt und belegt dies auch mit Zahlen, ist der Rückhalt der lu-therischen, aber auch der ortho-doxen Kirche beim Volk in nur geringem Maße abgebröckelt. Es waren vor allem die sechziger Jahre, die zu einem gesellschaftlichen Wandel geführt haben, während die letzten beiden Jahrzehnte eher eine Stabilisierung des Verhältnisses von Bevölkerung und Kirche gebracht haben.

Stolz verweist die finnisch-lu-therische Kirche darauf, daß auch heute noch immer mehr als 90 Pro-zent der Neugeborenen getauft und 95 Prozent aller 15jährigen Finnen am Konfirmandenunterricht teil-nehmen. Auch mit der Zahl der kirchlichen Eheschließungen ist die Leitung der finnisch-lutherischen Kirche zufrieden, deren Oberhaupt der Erzbischof von Turku, zur Zeit John Vikström, ist. 96 Prozent der Mitglieder der finnisch-lutherischen Kirche werden auch kirchlich begraben.

Was den Gottesdienstbesuch be-trifft, schauen die Zahlen allerdings enorm schlecht aus. Nur mehr 2,5 Prozent der gläubigen Finnen -Kleinkinder mitgerechnet - gehen in die Kirche, nur zu großen Festtagen sind die zahlreichen Gotteshäuser, die noch immer das Ortsbild der finnischen Städte und Dörfer bestimmen, überfüllt. Die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche ist gering, was mit dem ei-genartigen Wechselspiel von pieti-stischer, auf den Kirchenbereich bezogener Frömmigkeit und der voranschreitenden Säkularisierung zu tun hat.

Kulturell leistet die Kirche sehr viel: Die Pflege des Choralgesangs steht an der Spitze, das erste finni-sche Kirchengesangsbuch ist bereits vor 400 Jahren erschienen. In den einzelnen Gemeinden sind mehr als 2.200 Musikgruppen aktiv, die von 700 Kantoren und Organisten her-angebildet und geleitet werden. Finnische Organisten sind weltweit führend auf diesem Gebiet der Musik.

Das kirchliche Leben in Finnland wird - eigentlich typisch für eine säkularisierte Gesellschaft -einerseits auf den jährlichen Mas-senveranstaltungen der sogenannten Erweckungsbewegungen, ande-rerseits in Kleingruppen häuslicher Gemeinschaftsformen, Gebets- und Bibelrunden, erlebbar. 15.000 sol-cher Kleingruppen gibt es in Finn-land, rund eine Viertelmillion Gläu-bige kommen in ihnen zusammen.

Die Erweckungsbewegungen gehen auf das 19. Jahrhundert zu-rück und hatten seinerzeit eine volksbildende, auch gesell-schaftspolitische Funktion. Sie fanden einen Nährboden in jenen politischen Bewegungen, die sich der Förderung des finnischen Na-tionalbewußtseins verschrieben hatten. Es gibt fünf solcher Bewe-gungen, denen es gelingt, pro Jahr von 30.000 bis 100.000 Menschen zu versammeln. "Die Erweckten" sind eine solche Initiative, die zu Sommerkonventen aufruft. Junge Leute finden sich vor allem in der Volksbewegung der sogenannten "Laestadianer", bei denen Laien-prediger moralische Normen und eine pietistische Religiosität ver-mitteln. Die "Evangelikaien" pflegen lutherische Bibeltradition, das religiöse Gespräch steht im Mittel-punkt. Gleichzeitig ist diese Be-wegung auch missionarisch sehr aktiv. Die vierte Gruppe sind die sogenannten "Beter". Ihr besonderes Gepräge ist das Beten auf Knien und der Choralgesang nach alten Texten und Melodien. Vor dem Zweiten Weltkrieg ist die "Fünfte Erweckungsbewegung" entstanden, die auf Neuevangelisierung und Missionsarbeit setzt. Im Gegensatz zu den anderen Bewegungen wirkt die "Fünfte" hauptsächlich innerhalb der kirchlichen Gemeinden und über sie. Gänzlich in der Kirche steht die charismatische Erneuerung, die seit den siebziger Jahren aktiv ist.

Allgemein ist über die Erwek-kungsbewegungen zu sagen, daß sie - trotz unterschiedlicher Struktur und Anliegen - nicht gänzlich losgelöst von der Kirche agieren. Sie wollen in die Kirche hineinwirken und ihr neues Leben einhauchen.

Das 1889 geschaffene Kirchen-recht bildet die Lebensgrundlage für die Kirche in Finnland. Nach dem Ende des Bürgerkrieges 1918, der die Nation in ein rotes und weißes Finnland zerrissen hatte, entbrannte eine Diskussion über Religionsfreiheit. Ein dementspre-chendes Gesetz wurde 1923 verabschiedet - auf der Grundlage jener Bestimmungen, die im vergangenen Jahrhundert neben der lutherischen Kirche anderen religiösen Gemeinschaften Existenzrecht bescheinigt hatten. Die lutherische Kirche blieb Mehrheitskirche, ist jedoch keine Staatskirche, sondern eine Volkskirche öffentlichen Rechts.

Die Beziehungen zum Staat sind eigenständig, in Fragen der Reli-gions- beziehungsweise Kirchengesetze gibt es jedoch eine enge Kooperation. Im Reichstag können nur Mitglieder der lutherischen Kirche an der Erörterung und Abstimmung über Gesetze der lutherischen Kirche teilnehmen.

An den staatlichen Universitäten gibt es zwei theologische Fakultäten, an denen die Pfarrer der Kirche ihre akademische Ausbildung erhalten. Es gibt Militärpfarrer, ein Feldbischof gehört sogar dem Ge-neralstab an; die Militärpastoral wird finanziell vom Staat getragen, der Staat finanziert zudem die Sprengelleitung, das Domkapitel, und das Gehalt der Bischöfe.

Die lutherische und die orthodoxe Kirche haben außerdem das Recht auf Erhebung einer Kirchensteuer. Im Durchschnitt zahlt der Finne 1,5 Prozent seines Einkommens an die Kirche, deren Einnahmen sich jährlich auf etwa 500 Millionen US-Dollars belaufen.

In der lutherischen Kirche Finnlands gibt es acht Diözesen, die oberste Entscheidungsgewalt liegt bei der 108köpf igen Landessynode, die zweimal jährlich tagt. Die Kirche hat 18.500 Mitarbeiter, von denen 1.400 Pfarrer sind - unter diesen 420 Pastorinnen.

1986 hat die Landessynode be-schlossen, das Pastorenamt auch Frauen zugänglich zu machen. Nach Kirchenrecht mußte diese Gesetze-sänderung auch durch den Reichs-tag angenommen und durch den Präsidenten bestätigt werden, was 1987geschah. Die ersten Frauenor-dinierungen gab es dann 1988. Ein Bischof hat sich geweigert, Frauen zu ordinieren; Frauen seiner Diözese haben als Pastorinnen in anderen Bistümern eine Anstellung erhalten.

Seit mehr als einem Jahrhundert betreibt die finnisch-lutherische Kirche engagiert Auslandsmission; momentan verlagert sich der Schwerpunkt von Afrika nach Südostasien. In jüngster Zeit konn-ten aufgrund der politischen Ver-änderungen in der Sowjetunion die bestehenden Kontakte zu den bal-tischen Republiken vertieft und erweitert werden. Finnlands Kirche betreibt auch eine Emigranten-seelsorge an rund 250.000 Finnen, die in den sechziger Jahren als Gastarbeiter nach Schweden gegangen sind.

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