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Benelux ist eine Union, aber kein Schmelztiegel

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Im Laufe der letzten 600 Jahre sind zahlreiche Pläne zur Einigung Europas entstanden. Das Mühlrad der Geschichte hat sie allerdings immer wieder zermalmt. Am Ende des 13. Jahrhunderts war die damals bekannte Welt durch den Islam in die östliche Welt der „Ungläubigen” und die westliche Welt des auf den Kontinent Europa zurückgedrängten Christentums geteilt. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts entsteht die erste „Nation”, die dem Papst und dem Deutschen Reich zu trotzen wagte: das Frankreich Philipps IV. Als Reaktion auf die damit einsetzende Desintegration und auf die Bildung von zunächst regionalen, später großräumigeren dynastischen Bereichen, entsteht das von vielen Historikern beschriebene Heimweh nach der verlorenen Einheit. Anläßlich der Krönung Kaiser Heinrichs IV. durch Papst Clemens V. in Rom schreibt Dante Alighiere im Jahre 1308 „De Monarchia”, ein Werk, das allgemein als das erste Plädoyer für einen föderalistischen Bund von Völkern unter europäischem Patronat angesehen wird.

Bis zum Zweiten Weltkrieg sind viele Formulierungen zur europäischen Einigung entwickelt, veröffentlicht, verworfen und vergessen worden, doch finden sich manche Grundgedanken aus der jahrhundertelangen Periode des Heimwehs nach der verlorenen Einheit in den Verträgen wieder, die nach dem Kriege geschlossen worden sind, vor allem in den Römischen Verträgen.

Den wirklichen Anfang machten die Benelux-Länder. Bereits am 5. September 1944 schlossen die Regierungen Belgiens, der Niederlande und Luxemburgs, in London ein Zollabkommen, als erster Schritt auf dem Wege zu einer Verflechtung der drei Nationalökonomien in Form einer Wirtschaftsunion. Mit großer Zielstrebigkeit Und Entschlossenheit wurden die nächsten Schritte gesetzt. Am 1. Jänner 1948 trat das Zollabkommen in Kraft Dem Protokoll über die Koordination der Wirtschafts- und Sozialpolitik vom Juli 1953 folgte im Dezember des gleichen Jahres das Protokoll über die gemeinwirtschaftliche Handelspolitik. Im Mai 1955 wurde die Landwirtschaftspolitik harmonisiert und am 3. Februar 1958 wurde der Vertrag über die Wirtschaftsunion unterzeichnet, der am 1. November 1960 in Kraft trat. Seine wesentlichen Kennzeichen sind die Grenzfreiheit zwischen den drei Ländern mit freiem Personen-, Güter-, Kapitals- und Dienstleistungsverkehr, die Koordination der inländischen Wirtschaftspolitik und das koordinierte, gemeinschaftliche Auftreten nach außen. Die Benelux-Wirtschaftsunion schließt zwar keine Währungsunion in sich ein, doch können, gemäß Artikel 14, Maßnahmen getroffen werden, sobald die Lebensinteressen eines Partnerlandes gefährdet sind. Der auf 50 Jahre geschlossene Vertrag wird stillschweigend um weitere zehn Jahre verlängert. Er soll den 24 Millionen Menschen dienen, die in drei konstitutionellen Monarchien mit einer Bevölkerungsdichte von 332 (Niederlande) 321 (Belgien) und 139 (Luxem-,

bürg) pro Quadratkilometer auf dem engen Raum von 74.300 Quadratkilometer leben.

Unter dem Benelux-Dach arbeiten Menschen aus elf Nationen. Von den

356.400 luxemburgischen Einwohnern sind 24 Prozent Ausländer, nämlich 84.500, darunter 82.800 Italiener. Im belgischen Lüttich gibt es 13.000 Spanier, in den Niederlanden befinden sich rund 2000 Österreicher unter den

362.400 „Fremden”. Die Wirtschaftsunion Benelux, hat zwar seit ihrer Gründung entscheidende Anstöße und Vorbilder für die europäische Gemeinschaft gegeben, doch bleibt sie weiterhin eine zentraleuropäische Region mit vielen kleinen Kultur- und Sprachgemeinschaften. Ein Schmelztiegel ist sie nicht geworden.

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