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Ein neues Gleichgewicht der Mächte

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Zweimal im Leben einer Generation ist idealistischen Erwartungen, die die Gründung eines erdumspannenden Friedensbundes begleitet hatten, Enttäuschung und Ernüchterung gefolgt. Wenn der Völkerbund nach dem ersten und die Vereinten Nationen nach dem zweiten Weltkrieg gar bald ihre schweren Mängel und Unzulänglichkeiten enthüllten, so wurde damit dem uralten Streben der Staaten nach Verbindung mit ihresgleichen nicht Einhalt getan. Vom Gebot der Selbsterhaltung gedrängt, kehrte die Diplomatie großer und kleiner Mächte nach beiden Kriegen zu der früheren Methode der Bündnispolitik zurück. Bündnisse sind zwar begrenzter in Ziel und Wirkung als die weitgesteckten Aufgaben einer Weltfriedensorganisation, doch sie scheinen ein größeres Maß an Sicherheit in unmittelbarer Gegenwart und nächster Zukunft zu gewähren.

Die im Jahre 1945 in San Franzisko unterzeichnete „Charta der Vereinten Nationen“ bietet selbst eine Reihe von Handhaben für den Aufbau von Bündnissen. Vor allem sieht sie „regionale Verabredungen und Einrichtungen zur Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit unter den Nationen“ vor. Bereits zur Zeit des Abschlusses der Charta von San Franzisko bestanden regionale Übereinkommen und Einrichtungen für die zwanzig amerikanischen Republiken. In der. Charta konnte man darüber nicht hinweggehen; man behielt aber regionale Zwangsmaßnahmen, die im Interesse des Friedens und der Sicherheit vorgenommen werden könnten, der Ermächtigung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vor. Da zu Beschlüssen des Sicherheitsrates die Zustimmung jedes der fünf ständigen Mitglieder dieser Körperschaft, das ist der Großmächte, erforderlich ist, würde die Stimmverweigerung einer Großmacht, das sogenannte „Veto“, eine regionale Zwangsmaßnahme verhindern. Bei dem gegenwärtigen Zwiespalt der führenden Mächte in allen wichtigeren Fragen würde sich die innere Lähmung des Sicherheitsrates auf die regionale Organisation übertragen. Das ist auch der augenscheinliche Hauptgrund dafür, daß in dem im Jahre 1947 abgeschlossenen interamerikanischen Verteidigungsvertrag ' der Grundsatz regionaler Friedensbewahrung zugunsten des „natürlichen Rechtes auf individuelle oder kollektive Selbstverteidigung“ zurückgestellt wurde. Solch ein Recht ist nämlich im Ajtikel 51 der Charta anerkannt für den Fall, daß ein bewaffi neter Angriff auf ein Mitglied der Vereinten Nationen erfolgt. Das Recht der Selbstverteidigung soll zwar nur ausgeübt werden, bis der Sicherheitsrat notwendig erscheinende Maßnahmen getroffen hat; aber hier wirkt die Handlungsunfähigkeit dieses Rates im umgekehrten Sinn: ein vorläufiger Akt „kollektiver“ Selbstverteidigung, insbesondere durch militärische Bündnisaktion, würde zum endgültigen, zur ultima ratio. Eine Gruppe regionaler Zwangsmaßnahmen nimmt die Charta freilich ganz von dem Erfordernis der Ermächtigung durch den Sicherheitsrat aus, nämlich solche, die sich „gegen die Erneuerung einer Angriffspolitik“ seitens eines „Feindstaates“ richten. Als derartige Feindstaaten gelten Kriegsgegner einer der Vereinten Nationen im zweiten Weltkrieg.

Die ersten Jahre nach dem Ende der Feindseligkeiten standen naturgemäß unter der Herrschaft der Kriegsbündnisse. Noch heute gilt rechtlich das Sonderfriedensverbot der zu Neujahr 1942 unterzeichneten Washingtoner E r-klärung der „Vereinten Nationen“ (des Kriegsbündnisses dieses Namens, das nicht mit der in San Franzisko gegründeten Weltorganisation gleich ist). Noch fehlen ja die Friedensschlüsse der Alliierten mit Deutschland und Japan! Andere Kriegsbündnisse, die weiter Geltung besitzen, sind die gegen Deutschland oder dessen Verbündete gerichteten Verträge der Sowjets mit Großbritannien (1942), mit der tschechoslowakischen Exilregierung (1943), das erwähnte mit Frankreich (1944), ferner das sowjet-chinesische Bündnis gegen Japan (1945). Nach Vernichtung der deutschen und der japanischen Wehrmacht, nach dem Friedensschluß mit Italien und den kleineren Gegnern der Alliierten traten deren Bündnisse gegen die Kriegsgegner allmählich in den Hintergrund und Zusammenschlüsse in anderer Richtung kündigten sich an. Wohl unterzeichneten Frankreich und Großbritannien noch im März 1947 ein mindestens fünfzig Jahre währendes Bündnis gegen Deutschland, doch dann erfolgt die Wendung. Der ein Jahr später gleichfalls auf mindestens fünfzig Jahre abgeschlossene Brüsseler Vertrag zwischen Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg und den Niederlanden steht im Zeichen der kulturellen, wirtschaftlichen und militärischen Einigung Westeuropas und der erwarteten amerikanischen Hilfe. Auch in diesem Vertrag wird noch der Möglichkeit erneuter deutscher Angriffspolitik gedacht, aber der Bündnisfall (das ist das Ereignis, in dem die Verpflichtung zu militärischem und anderem Beistand wirksam wird) ist: bewaffneter Angriff gegen einen Verbündeten in Europa — ganz allgemein.

Das westeuropäische Bündnis sollte nur der Vorläufer des umfassenderen N o r d a 11 a n t i s c h e n Vertrages vom 4. April 1949 sein, auf den sich bisher, auf mindestens zwanzig Jahre, die genannten fünf westeuropäischen

Verbündeten, ferner Dänemark, Island, Italien, Kanada, Norwegen, Portugal und die Vereinigten Staaten von Amerika verpflichtet haben. Der Leitgedanke dieses Vertrages ist die Verteidigung der kulturellen und wirtschaftlichen Gemeinschaft der Völker, die um den Atlantischen Ozean siedeln. Die Beispiele Dänemarks und Italiens zeigen, daß der nordatlantische Raum ziemlich weit nach Osten ausgedehnt wird. Der Vertrag macht eine spätere Einbeziehung nicht nur etwa Spaniens, sondern auch mitteleuropäischer Länder möglich. Der Bündnisfall ist: bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere Verbündete in Europa oder in Nordamerika. Dazu zählt zum Beispiel auch ein Angriff auf Besetzungstruppen eines Verbündeten, wo immer in Europa. Ein Angriff auf einen der Verbündeten gilt als Angriff auf alle von ihnen und verpflichtet zur Bündnishilfe. Der Nordatlantische Vertrag sieht auch wechselseitige Hilfe zur Stärkung der Widerstandskraft der Verbündeten gegen bewaffneten Angriff vor; der amerikanische Kongreß bewilligte dafür bisher eine Milliarde Dollar. Der Vorbereitung für den Bündnisfall dient weiter die im Vertrag vorgesehene ständige gemeinsame Organisation der Verbündeten.

Der „Nordatlantische Rat“, bestehend aus den Außenministern der Verbündeten, wurde im vergangenen September aufgestellt, zugleich mit dem „Verteidigungsausschuß“, in dem die Verteidigungsminister vertreten sind. Ein „Militärausschuß“ soll die Zusammenarbeit der verbündeten General- und Flottenstäbe sichern. In ihm bilden die Vertreter der französischen, britischen und amerikanischen Stäbe eine „ständige Gruppe“ mit leitenden Funktionen und dem Sitz in Washington. Unter dieser „ständigen Gruppe“, offenbar der Kader eines verbündeten Oberkommandos, sind für Zwecke der Planung fünf „Gebietsgruppen“ vorgesehen, nämlich für den Nördatlantischen Ozean, Nordeuropa, Westeuropa, Europa-Mittelmeer und Kanada-Vereinigte Staaten. Großbritannien ist an vier. Frankreich an drei dieser Gebietsgruppen beteiligt.

In dem Nordatlantischen Vertrag haben die Westmächte den breitesten Rahmen für ihre „kollektive Selbstverteidigung“ geschaffen. Diese Selbstverteidigung wurde, wie im interamerikanischen und im westeuropäischen Bündnis, völkerrechtlich auf den Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen gegründet. Die Vereinigten Staaten gehören als stärkste westliche Macht sowohl dem nordatlantischen als auch dem interamerikanischen Bündnis an, dessen vom Nord- und Südpol reichendes Verteidigungsgebiet sich zum Teil mit dem des nordatlantischeh überdeckt. Andererseits sind Frankreich mit der Türkei, Großbritannien außer mit letzterer noch mit arabischen Staaten verbündet, womit Ansätze für einen schon öfter erörterten östlichen Mittelmeer- oder vorderasiatischen Pakt gegeben sind. Die jüngsten, umstürzenden Ereignisse in China haben ferner den Bestrebungen antikommunistischer Regierungen nach Errichtung eines pazifischen oder südostasiatischen Bündnisses neue Nahrung gegeben.

Zum Unterschied von den drei großen Bündnissen des Westens, von denen jedes eine Vielheit von Teilnehmern hat, besteht das Bündnisnetz des Ostens, dessen Schnüre in Moskau verknotet sind, durchwegs aus zweiseitigen Verträgen. Die Sowjetregierung hat in den Jahren 1#9 4 2 bis 1948 zehn Bündnisse mit einzelnen Mächten unterzeichnet: außer mit Großbritannien, Frankreich und China mit der Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien und Finnland. Daran fügen sich 16 Verträge, die von 1946 bis 1949 von den kleineren mittel- und osteuropäischen Verbündeten der Sowjets untereinander und mit Albanien abgeschlossen wurden. Von all diesen 26 Verträgen haben die Sowjetbündnisse mit Großbritannien und Frankreich im Hinblick auf die anderwärtigen Bindungen dieser Mächte gegenwärtig an Bedeutung verloren. Auch sind die sieben Bündhisse der Sowjets und der Volksdemokratien mit Jugoslawien infolge dessen Entzweiung mit den Komin-formstaaten wenigstens tatsächlich unwirksam geworden. Das Bündnis der Sowjets mit China steht Zeitungsnachrichten zufolge zur Stunde, da diese Zeilen geschrieben werden, in neuer Verhandlung. Der wirksame osteuropäische Bündnismechanismus ruht nach obigem derzeit auf 16 Verträgen.

Was den Inhalt dieser Verträge betrifft, so gibt es im einzelnen Abweichungen, aber im allgemeinen gilt als Bündnisfall: Krieg eines der Vertragschließenden mit Deutsthland oder dessen Verbündeten, wenn Deutschland seine Angriffs p o 1 i t i k wieder aufnimmt. Das macht präventive Blindniskriege möglich. Nur im Sowjet-finnischen und in einigen Balkanverträgen ist der Bündnisfall enger umschrieben und auf einen wirklichen Angriff Deutschlands oder dessen Verbündeter beschränkt. Die Verbündeten der Ostverträge haben einander Beistand mit allen Mitteln zu gewähren, die ihnen zur Verfügung stehen. Die Mindestdauer der Verträge ist zwanzig Jahre. Die Sowjetdiplomatie der formell in erster Linie gegen Deutschland gerichteten Bündnisse hat den Vorteil, daß militärische Bündnismaßnahmen der Ermächtigung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen nicht bedürfen. Allerdings richten sich die osteuropäischen Bündnisse nicht nur gegen Deutschland, sondern auch „gegen jedwede Regierung, die mit Deutschland unmittelbar oder in welcher Form immer kriegsverbündet ist“; einige der neueren Bündnisse richten sich noch allgemeiner gegen Deutschland „oder eine dritte Macht“. So könnten zum Beispiel die osteuropäischen Bündnisse gegen die Westmächte in Bewegung gesetzt werden, wenn diese Mächte engere Beziehungen zu der westdeutschen Republik unterhalten und letztere, nach Deutung der Ostverbündeten, sich einer „Angriffs p o 1 i t i k“ (nicht erst tatsächlichem Angriff) zuwendet.

Weder das westliche, noch das östliche Bündnisnetz ist heute im Zustand der Vollendung. Vielmehr sind beide Mächtegruppen fortgesetzt bemüht, die bestehenden Bündnisse innerlich zu festigen und ihnen neue Freunde zu gewinnen. Die Furcht, daß diese Dynamik über kurz oder lang zu einem dritten Weltkrieg führen könnte, entbehrt leider nicht ganz der Begründung. Geschichtliche Erfahrung erlaubt aber noch eine andere Deutung: das Gegenwartssystem der Bündnisse strebt einem neuen Gleichgewicht der Mächte zu. Ein solches Gleichgewicht war durch Jahrhunderte leitender Grundsatz der Staatskunst Europas gewesen. Das europäische Gleichgewicht wurde vor allem durch das Werkzeug der Bündnisse gegen die Gefahr der Herrschaft eitler einzigen Macht über den

Erdteil verteidigt, mag es sich dabei nun um eine Votmacht Österreich-Spaniens, Frankreichs, Rußlands oder Preußen-Deutschlands gehandelt haben. So labil, so unbestimmt in seiner Anwendung, so geeignet zu Mißbrauch der Grundsatz des Gifeichgewichtes auch sein mochte, er half doch durch Jahrzehnte, namentlich im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, Friede, Sicherheit und Wohlstand bewahren. Unsere Zeit erscheint leider nicht reif für die

Gewährung wirksamer Autorität über die Staaten an einen universellen Friedensbund, weil sie im Weltanschaulichen zutiefst in sich gespalten ist. Darüber können auch die Beteuerungen der Treue zu deri Vereinten Nationen, die sich in den Vötsprüchen gegenwärtiger Bündnisse finden, nicht hinwegtäuschen. Aber ein nelies Gleichgewicht der Weltmächte als vorläufiges Ergebnis des neuen Bündnissystems mag eine bescheidenere Hoffnung auch unserer Zeit sein.

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