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Die Verkäßlichung Italiens

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Ich wollte Italien wieder einmal sehen, seine reizvollsten und seine größten Städte, die so überraschend schönen, ländlichen Klöster, die traumhaften Landschaften und auch die berühmten: von Taormina bis zu den Borromä-ischen Inseln. Dreieinhalb Monate bin ich umhergereist, da und dort mich aufhaltend; und nun bin ich seltsam traurig. Traurig für mich selbst und für dieses Land.

Zum ersten Male reiste ich durch Italien vor fünfzig Jahren. Schon damals war es angegriffen und angefault von der sogenannten modernen Zivilisation, aber immer noch war es die schöne Heimat eines menschlichen Volkes. Noch gab es unberühmte Städte und Gegenden, noch atmete man dort die Luft des glücklichen neunzehnten Jahrhunderts in einer Umgebung, die dem vierzehnten oder sechzehnten Jahrhundert angehörte, Italien war arm, aber die Italiener waren noch im Genuß von Reichtümern, die kein Bankkonto bieten kann: Liebe, Herzlichkeit, höfliches Benehmen, Humor. Wohl war Italien in manchem schmutzig, aber von einem alten, gesunden, ursprünglichen und ländlichen Schmutz, der der Schönheit der Natur nichts anhaben konnte und der Luft nicht ihre Reinheit benahm. Italien war unbequem, ziemlich primitiv und ohne Komfort, aber dafür entschädigte es den Reisenden mit der Stille seiner Straßen, mit seinen luftigen Plätzen, mit der Friedlichkeit seiner Kleinstädte, mit der Geruhsamkeit seines bescheidenen, werktätigen Lebens, mit der liebenswerten Einfachheit seiner Sitten, mit der unbefangenen Gutmütigkeit seiner volkstümlichen Herren und seines herrenmäßigen Volkes.

Auch damals gab es Briganten, Betrüger und Bettler, aber in bescheidenem, erträglichem Maß, und sie waren kenntlich und unterscheidbar. Die Briganten von einst hatten etwas Ritterliches und Artiges an sich, indes die heutigen Räuber und Wegelagerer rohe Taugenichtse sind, die aus ihren Untaten ein breit organisiertes Gewerbe gemacht haben, das jeder Poesie bar ist. Die Bettler gaben sich als rechtmäßiger Teil der Christenheit und sozusagen als malerisch wirkende Wächter vor Kirchen und Palästen. Heute heißen sie Arbeitslose, leben auf Kosten derer, die etwas tun. und hassen alle, die klüger und arbeitsamer sind. Die Betrüger waren eine Menschenklasse für sich, sympathisch durch ihre Kunstfertigkeit im Schwindeln, und sie begnügten sich mit mäßigem Profit. Heute wird überall betrogen, im Gewerbe, in Kaufläden wie in staatlichen Kanzleien und auf Bahnhöfen.

Leb wohl, altes, liebes Italien! Lebt wohl, ihr-Schurken und Betteljungen von Neapel! Lebt wohl, ihr Droschkenkutscher und Straßenmusikanten von Florenz! Lebt wohl, ihr Bänkelsänger. Dudelsackpfeifer, ihr Sandalenweiber und Blumenmädchen von Rom! Lebt wohl, ihr Gondelführer und ihr venezianischen Kerle mit den schwarzen Kopftüchern! Lebt wohl, ihr Fischer von Capri, ihr Puppenspieler von Palermo! Leb wohl, du volkstümliches, festfreudiges, einfallreiches, geniales Italien! In diesen letzten Jahren, nach dem zweiten teuflischen Krieg, ist auch das schöne Paradies Italien im Begriff, eine Hölle auf Yankee-Art zu werden. Die amerikanische Zivilisation mit ihren Dollars und Maschinen hat die alte, geliebte Halbinsel überflutet, um sie nach ihrem eigenen Bild und Beispiel zu „zivilisieren“.

Die Straßen, fast alle eng, gemacht für Fußgänger und Reiter, sind kaum begehbar vor lärmenden Automobilen, vor Fahrrädern und unerträglichen Motorrädern. Dort, wo man einst nur die melodischen Rufe der fahrenden Händler vernahm, Lieder von Mädchen und Burschen, heiteres Lachen der Gevatterinnen unter dem Torbogen und Peitschenknallen, hört man jetzt nur Geräusche aus Metallwerkstätten, Lärm aller Art von Automobilen, Knirschen von Treibrädern. Krachen von offenen Auspuffen, Motorengetöse, Hupengeheul und die nicht endenden, ohrenbetäubenden Chöre aus Grammophonen und Lautsprechern! Die italienischen Straßen sind die gefährlichsten und lärmendsten in ganz Europa geworden, und die Italiener benehmen sich, als wäre Lärm die unabstreitbare Bestätigung von Bewegung, Schnelligkeit, Reichtum, Luxus, jeglichen Aufstrebens, überhaupt des Lebens. Es ist nicht mehr möglich, auf einem Platz stehen zu bleiben, um in Ruhe eine Fassade oder ein Denkmal zu bewundern. Das Hirn wird von all dem Lärm ganz betäubt und dumm, und der Mensch ist dauernd bedroht, in Verwirrung zu geraten und in Stücke zerrissen zu werden Die Maschinen haben, in vergröbertem. Maß, an sich etwas von den Italienern, die alle eilig sind, harte Stimmen und traurige oder geringschätzige Mienen haben.

Zusammen mit dem Lärmen haben sich die üblen Geräusche vervielfacht; und nicht nur im städtischen Straßengewimmel. Auch in den Alleen längs des Meeres, in den engen Gassen mittelalterlicher Städte, in öffentlichen Gärten, auf bepflanzten Hügeln, sogar auf manchen Landstraßen werden die Düfte, die uns anwehen, erstickt vom Gestank nach Benzin, nach Naphtha. nach verbranntem Oel und nach all den scharfriechenden Verbrennungsresten.

So hat man seit meinen Jugendjahren das göttliche Italien zugerichtet. Heute scheint es reicher, tätiger, „moderner“. In Wahrheit ist es, am Früheren gemessen, ärmer und häßlicher geworden.

Die neuen Häuser sind anonyme, abscheuliche Kasernierungsbauten, die an die eindrucksvolle Wucht von Wolkenkratzern nicht heranreichen, aber uns sehnsüchtig an die bescheidenen Häuser alten Stils zurückdenken lassen, die Gärten mit Laubengängen hatten, zwar vielleicht die neuesten Erfindungen der Wasserversorgung verschmähten, dafür aber in trostreiches Grün gebettet lagen und sich von der Sonne warm bescheinen ließen.

Fast alles, was in Italien in den letzten Dezennien an Neubauten aufgeführt wurde, sieht viel anspruchsvoller aus. ist aber unsagbar häßlicher. In den Städten richtet man die schattenspendenden Gärten grausam zugrunde, um Kasernen aus Zement aufzustellen, garstige Bienenstöcke, aus denen die Kinder bemittelter Idioten hervorquellen.

An den großen Straßen, angesichts der Seen und der Berge, behindert und verunziert man die Aussicht durch Reklametafeln, die in unschönen, grellen Farben die Güte eines Schnapses oder einer Rasierseife m die Welt hinausschreien Ueberau beschneidet man Bäume und lichtet Waldungen. Die Heimat eines heiligen Franziskus und eines Leonardo kann die Schönheit der Pflanzenwelt und den Vogelsang nicht mehr ertragen. In jedem Italiener steckt die Seele eines Holzfällers und eines Jägers. In keinem Lande der Welt ist die Leidenschaft, den Pflanzenwuchs auszurotten und Vögel umzubringen, so verbreitet wie in Italien. Das Wappen dieses Landes sollte als sprechende Embleme eine Axt und ein Gewehr führen.

Italien wird Tag für Tag lärmender, übelriechender, gemeiner, mechanisierter, häßlicher, das will heißen: immer weniger bewunderns-und bewohnenswert. Wenn es so weitergeht, wird man in fünfzig Jahren allen Zauber, allen Ruhm des „Gartens von Europa“ durch eine schlechte Kopie der „barbarischen Kultur“ unseres Jahrhunderts verdrängt und zu einem verborgenen Dasein herabgewürdigt haben.

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