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Russische Denker

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Ein wichtiges, wertvolles, gerade heute aktuelles Werk. Die russischen religiösen Denker von Skoworoda (1722—1794) bis Wja-tscheslaw Iwanow (1866—1949) werden In 25 Einzeldarstellungen charakterisiert, und zwar an den entscheidenden Punkten ihres Verhältnisses zu Christus, der Kirche und dem Papsttum. Erstaunlich bei dieser jungen Philosophie ist ihre Einheitlichkeit. Die Fragen „Was' ist der Sinn des Daseins?“ und „Was ist der Sinn Rußlands?“ fließen bei ihr fast zusammen. Das einzige bodenständige Denken, das die Russen nach ihrem Aufwachen seit Peter dem Großen bei sich fanden, war die orthodoxe Theologie. Nun gingen sie bei dem Westen in die Schule, um sich die sprachlichen und intellektuellen Werkzeuge fürs Philosophieren zu erarbeiten. Sie begannen mit den Denkmitteln des deutschen Idealismus ihre Orthodoxie zu rechtfertigen. Das russische Geistesleben hatte bisher drei Höhepunkte: die Puschkin-Zeit um 1835 mit Gogol, Kire-jewski, Bjelinski; die Zeit um 1880 mit Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski, Ljeskow, Tschechow, Solowjow, Tschaikowsky, Mussorgski, Mendelejewj und die Zeit um 1900 mit Gorki, Block, Bjely, W. Iwanow usw. Die größte Zeit war die um 1880: sämtliche Namen jener Etappe haben Weltbedeutung gewonnen. Solowjow ist der weitaus originellste Denker, auf den die Entwicklung des russischen Denkens hinzielt und von dem es seitdem herkommt. Ohne Newman zu kennen, entdeckt er für sich das' „Developement of Christian Doctrine“ und vollzieht denselben Schritt wie Newman: er tritt zur katholischen Kirche über, Ohne aber dabei seine angestammte Kirche, die ja schismatisch, nicht häretisch, ist, zu verlassen. Die Grundmotive der russischen Philosophie sind zwei Ideen: der Gedanke der „Sobornostj“, den Chomjakow (vor Solowjow) gefaßt hatte, und der Gedanke der „Sophia“, den Solowjow zum Zentrum seiner Spekulation machte. Sobornostj ist religiöser Republikanismus: die in Liebe versammelte Einmütigkeit, und stammt, wie die ganze Denktechnik Chomjakows, vom Protestantlsmus ab. Sie ist ein „Ausweichbegriff“: einerseits soll sie ein Gegengewicht gegen die dogmenbildende Autorität der katholischen Kirche sein und andererseits eines gegen den autoritären Zarismus. Der Gedanke der Sophia Ist der Sobornostj polar entgegengesetzt: das ist ebenfalls eine Sammlung („sobiratj“ heißt sammeln), aber eine Sammlung der Menschheit, ja der ganzen Schöpfung, In den einen Gott. Der Sophiengedanke kam Solowjow von Jakob Boehme und Franz v. Baader her, es ist aber zugleich ein Gedanke, der in der griechischen Kirche (Hagia Sophial) stets lebendig geblieben war und daher auch den Russen nahestand. Die Sobornostj führt von der katholischen Kirche weg (wiewohl diese ein allgemeines Priestertum durchaus kennt), während der Sophiengedanke zu ihr hinführt. Zeitlich in der Mitte zwischen diesen beiden Gedanken steht Dostojewskis Legende vom Großinquisitor, die in ihrer künstlerischen Kraft wohl die Intensivste antikatholische Äußerung der letzten hundert Jahre ist. Bedeutsam ist, daß bereits Leontjew in den achtziger Jahren diese Schreckensvision nicht als eine der westlichen Vergangenheit, sondern als eine der russischen Zukunft deutet. — Die reich aufgeschossene russische Philosophie der dritten Etappe (1900) mußte nach der bolschewistischen Revolution ins Exil gehen sie fristete seitdem ein Emigrantendasein mit allen Nachteilen eines noterzwungenen Vielschreibens, welches oft an die Grenzen der schlimmsten, der religiösen Schmockerei führt. Dennoch bietet sie im ganzen das Bild einer imponierenden Gedankenfülle, Frische und Einheitlichkeit. Sie läßt uns Katholiken ermessen, wieviel wir durch das Schisma verloren haben (nicht an Wahrheit, wohl aber an Erkentnisreichtum) und wieviel wir durch eine liebevolle Wiedervereinigung gewinnen würden. Für die Zukunft bedeutsam ist, daß die heutige Kirche in Rußland von denselben Gedanken wie die Emigrationstheologie befruchtet wurdet — Nochmals: ein sehr wichtiges und wertvolles Buch!

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