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GOTTSUCHER IM ALTEN RUSSLAND

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Dem Dichter Rainer Maria Rilke, der in den Jahren 1899 und 1900 Rußland besuchte, machte die schlichte Frömmigkeit des russischen Volkes tiefen Eindruck: „Mir war ein einziges Mal Ostern, das war damals in jener langen, ungemeinen, erregten Nacht, da alles Volk sich drängte... das war mein Ostern, und ich glaube, es reicht für ein ganzes Leben aus. Die Botschaft ist mir in jener Moskauer Nacht seltsam groß gegeben worden, ist mir ins Blut gegeben worden und ins Herz!“

Aus dem Geist der volkstümlichen russischen Religiosität ist eine eigenartige Erscheinung hervorgegangen: das Star-zentum. Es waren Priester, Mönche, gelegentlich auch Laien wie der Ukrainer Skovoroda (1722 bis 1794), die als Wanderprediger, meistens aber in ihrem Kloster dem Volke predigten und es vor allem in seinen Nöten mündlich und sogar brieflich berieten. Hauptstätte des Starzentums war das Kloster Optina Pustynji, wo sich unter anderem der berühmte Pater Ambrosius aufhielt, zu dem auch Tolstoj, Dostojewskij — der ihn als Vorbild des Starez Sossima im Roman „Die Brüder Karamasow“ nahm — und Solowjow pilgerten. Es gibt wohl kein christliches Volk, das so viele Religionsphilosophen und Dichter hervorgebracht hat, die inbrünstige Gottsucher waren.

Tolstojs ganzes Leben (1828 bis 1910) war ein Ringen mit Gott, in dem er mitunter voller Verzweiflung sich den Tod wünschte. Als Fünfziger schrieb er in sein Tagebuch: „Sag an, Leo Tolstoj, lebst du nach den Grundsätzen, die du predigst?“ Demütig antwortete er: „Ich sterbe vor Scham, ich bin schuldig, ich verdiene Verachtung.“ Dabei sind alle seine Schriften ohne das christliche Ethos nicht zu denken: die großen Romane „Krieg und Frieden“ und „Auferstehung“, dann besonders „Mein Glaube“, „Meine Beichte“, „Was sollen wir denn tun?“, „Kurze Darstellung des Evangeliums“. Tolstoj kam in seinem Ringen um den rechten Glauben au dem Schluß, daß er in der russischen Kirche nicht zu finden sei, er schrieb auch eine „Kritik der dogmatischen Theologie“ und wurde wegen seiner Angriffe auf die Kirche im Jahre 1901 aus dieser ausgeschlossen. Die Hauptlehre Tolstojs gipfelt in dem Satz aus der Bergpredigt: „Leistet dem Bösen keinen Widerstand.“ Tolstoj blieb ein Gottsucher, der nicht selig werden konnte. Er pries die Armut und bezeichnete das Eigentum als Wurzel allen Übels, aber er blieb der vornehme Graf und reiche Grundbesitzer. Niemals gelang es ihm, das gläubige Ruhen in Gott des einfachen Volkes, das er so liebte, zu erreichen. So blieb sein Herz unruhig, seine Qualen spiegeln sich in seinem Drama „Die Macht der Finsternis“ wider. Noch zehn Tage vor seinem Tod verließ der Zweiundachtzig jährige Haus und Familie und starb auf einer kleinen Station im Hause des Stationsvorstehers. Doch gilt auch sein Nachruf für einen Freund ihm selbst: „Er lebte, um in sich die Liebe zu mehren, um in der Liebe zu wachsen, weil dies wohlgefällig is, dem, der ihn in das Leben sandte.“

Tolstoj und Dostojewskij (1821 bis 1889) werden oft im gleichen Atemzuge genannt, aber sie stehen in großem Gegensatz zueinander. Der sein Leben lang in großer Not lebende, vom Unglück verfolgte, von Krankheit und epileptischen Anfällen gequälte, zu Zuchthaus und Verbannung verdammte Dostojewskij blieb immer ein treuer Sohn seiner Kirche. Schon als Jüngling soll er in Tränen ausgebrochen sein, als jemand ohne die nötige Hochachtung von Christus sprach. Er war der Überzeugung: „Es gibt in der Welt nur eine einzige positiv-schöne Gestalt: Christus.“ Er meinte: „Auch die religiöse Gemeinschaft ist die freie Gemeinschaft der Liebe, ein Ozean der Liebe.“ Er ersehnte eine Vereinigung der christlichen Kirchen und war überzeugt, „daß zur universalen, allmenschlich brüderlichen Vereinigung das russische Herz vielleicht von allen Völkern am meisten veranlangt und vorbestimmt ist“. Dostojewskij plante, ein Buch über Jesus Christus zu schreiben. Wenn er auch nicht dazu gekommen ist, so ist doch sein ganzes Schaffen, in dem so viele wunderbare Gestalten dargestellt sind, eine Lobpreisung Christi, die in den Worten des Starez Sossima zu Aljoscha Karamasow gipfelt: „Wendet euch nicht ab vom Menschen, weü er von Sünde beladen ist. Liebt ihn auch als Sünder, denn das ist der Gipfel der Liebe auf Erden.'“

Als Vorläufer Dostojewskijs kann man Gogol (1809 bis 1852) bezeichnen, dessen gedankenvolle Komödien noch heute gespielt, dessen unvollendeter Roman „Die toten Seelen“ immer wieder neu aufgelegt werden. In der Jugend von liberaler, sozialistischer Gesinnung, schrieb er nach innerer Läuterung Abhandlungen moralisch-aszetischen Inhalts. Auch er befaßte sich mit dem Gedanken der Annäherung der christlichen Kirchen, war zweimal in Rom und pilgerte nach Jerusalem. Schwer erkrankt, verbrannte er den zweiten Teil der „Toten Seelen“: „Ich nahm mir vor, vom Schreiben abzulassen, da ich sah, daß darin nicht der Wille Gottes liegt.“ Er bereitete sich — wie Dostojewskij — durch Gebet und Fasten auf den Tod vor und starb, eine Kerze in der Hand, während er Worte aus den Evangelien anhörte.

Auch Mereskowskij (1865 bis 1941), ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, der zahlreiche Romane („Leonardo da Vinci“1), Biographien und Heiligenleben verfaßt hat, hielt Christus und Kirche für untrennbar, er las täglich in den Evangelien und schrieb ein umfangreiches Werk „Christus der Unbekannte“. Aber es würde zu weit führen, wenn man auf die zahlreichen russischen Religionsphilosophen eingehen wollte, so daß nur einzelne erwähnt werden können. Chomjakow (1804 bis 1860), Kirejewskij (1806 bis 1856) und Danilewskij (1822 bis 1885) waren Slawophilen und erwarteten von der russisch-orthodoxen Kirche das Heil der Welt. Dagegen zeigt Leontjew (1831 bis 1891) eine gewisse Hinneigung zur römisch-katholischen Kirche. Er lebte eine Zeitlang in dem Panteleimon-Kloster auf dem Berge Athos, wo es heute noch russische Mönche gibt, erklärte aber: „Wäre ich in Rom, iah würde kein Bedenken tragen, Leo XIII. nicht nur die Hand, sondern auch den Fuß zu küssen.“ Leontjew sah klarer als mancher andere Russe seiner Zeit, er fürchtete, „daß aus dem Schöße unseres gleichmacherischen, dann gottlosen Staatswesens der Antichrist hervorgehen wird.“

Den umgekehrten Weg ging Bucharew (1822 bis 1871), der 1863 seine Ämter als Archknandrit und Theologieprofessor niederlegte und in großer Armut starb, geschmäht und verfolgt als ein „Tor um Christi willen“. Rozanow (1856 bis 1919) sah das Unheil über Rußland hereinbrechen, er empfand das Bild Christi als düster und traurig, als Welten-richter, und schrieb ein Buch „Das finstere Antlitz“. Auch aus seinen Schriften ist ein gewisses Verständnis für die römisch-katholische Kirche erkennbar. Nach der Oktoberrevolution schrieb er einen Aufsatz „Christus schweigt'“, starb dann aber in der Nähe des Dreifaltigkeitsklosters mit den Worten: „Laßt uns einander küssen, im Namen des auferstandenen Christus! Christus ist auferstanden!“

Als größter russischer Reiigionsphilosoph gilt Solowjow (1853 bis 1900), ein Freund Dostojewskijs und Slawophile, wenn er auch ebenfalls die Einigung der christlichen Kirchen anstrebte. Er war der Ansicht, daß sie alle nicht radikal voneinander geschieden, sondern lediglich Teile des einen wahren Leibes Christi seien. Von seinen Werken seien „Die geistigen Grundlagen des Lebens“ erwähnt, wo er schrieb: „Die endgültige Aufgabe der persönlichen und sozialen Sittlichkeit besteht darin, daß Christus — in dem die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt — in allen und in allem gestaltet werde.“ In Deutschland sind am bekanntesten Solowjows „Drei Gespräche“, die unter anderem von der Einigung der Kirchen — Gespräche zwischen Papst Petrus II., dem Starez Johannes und dem evangelischen Professor Pauli — und der Niederringung des Bösen handeln. Prophetisch ist die Erzählung vom Antichrist, wo der Philosoph „in nicht allzu großer Ferne die Gestalt des bleichen Todes“ sieht.

Der bekannteste Religionsphilosoph der Gegenwart ist Berdjajew (1874 bis 1948), dessen zahlreiche Werke in viele Sprachen übersetzt worden sind. Zuerst war er Sozialist und Gegner der russisch-orthodoxen Kirche, was ihm mehrere Jahre Verbannung eintrug. Die Bolschewisten beriefen ihn zum Professor an der Moskauer Universität, verwiesen ihn aber aus Rußland (1922), als er sich gegen den Kommunismus stellte. Berdjajew lebte dann in Berlin und Paris und strebte eine geläuterte Christusidee und geeinigte Kirche an. '

Schließlich soll noch der Dichter Alexander Block erwähnt werden (1880 bis 1921), der sich von Solowjow zu Lenin wandte und auch noch den Bolschewismus als Offenbarung der seelischen Tiefen des russischen Volkes ansah. Es gibt von ihm ein Gedicht, in dem an der Spitze der marschierenden Rotarmisten der rosenbekränzte Christus schreitet...

Von welch inbrünstiger Tiefe war die russische Frömmigkeit! Wie groß war die Zahl der Gottsucher in diesem Volk, das so viel erdulden mußte! Der christliche Glaube konnte in ihm nicht völlig vernichtet werden. Denken wir daher an Gogols Worte: „Die heiligen Bräuche werden zeitweilig verdunkelt, sie sterben in den gehaltlosen und verwitterten Massen, aber sie werden mit neuer Kraft in den Auserwählten erstehen, um sich durch diese in hellerem Lichte in der ganzen Welt zu verbreiten. Nicht ein Körnchen von dem wird sterben, was es in unseren alten Zeiten an echt Russischem gab und was durch Christus selbst geheiligt ward,“

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