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Das Ringen zwischen Tod und Teufel
M ehr als hundert Jahre trennen uns von Dostojewskij. Mehr als hundert Jahre, in denen Revolutionen die Welt erschüttert, vernichtende Kriege die Erde überzogen haben, Millionen von Menschen vernichtet und vertrieben wurden, neue Ideologien entstanden, unser Wissen ungeheure Fortschritte gemacht hat, unsere Lebensbedingungen sich entscheidend veränderten.
Vielleicht erscheint bei keinem anderen Dichter die Frage nach seiner Aktualität verfehlter, unsinniger, überflüssiger. Dostojewskij ist unser Zeitgenosse, die Betroffenheit, die sich bei der Lektüre Dostojewskijs einstellt, macht ihn zu einer großen Frage an uns, zu einer Wunde für uns alle, die sich nicht heilen läßt.
War Dostojewskij Dichter, Prophet, Philosoph, Literat, religiöser Schriftsteller? Selten zeigt sich die Unzulänglichkeit aller dieser Kategorien deutlicher als bei diesem Werk, in dem die Geheimnisse, Widersprüche und Sehnsüchte unseres Daseins ausgeleuchtet werden, in dem uns die Wirklichkeit menschlichen Lebens übersteigert und vertieft in einer qualvollen und unabweisbaren Radikalität nahegebracht wird.
Dostojewskijs Werk ist keineswegs einheitlich: Der Skeptiker Dostojewskij, der die Versuchung und Verzweiflung des Nihilismus ebenso kennt, wie die metaphysisch orientierte Revolte und Empörung bis in ihre äußersten Grenzen, steht neben dem Dostojewskij der Hoffnung, des Glaubens und der allesverzeihenden Liebe.
Wenn es hier eine Einheit gibt, so liegt sie nach seinem eigenen Bekenntnis darin, daß ihn die Frage nach der Existenz Gottes sein Leben lang gequält habe.
Dostojewskij hat uns ebenso visionäre Vorwegnahmen unserer Gegenwart, ihrer politischen Mächte, vernichtenden Totalitarismen und menschenverachtenden Maschinerie gegeben, wie er selbst verzehrt und gequält von der Frage nach dem Sinn unseres Seins unermüdlich und unerbittlich diese Frage ins Zentrum der Auseinandersetzung von Schuld und Sühne, Gut und Böse, Tod, Leiden und Unsterblichkeit gestellt hat.
Die „Narren in Christo“ von Fürst Myschkin im „Idioten“ bis zu Aljoscha Karamasoff tragen ebenso seine Fragen weiter, wie diejenigen seiner Gestalten, die Schuld auf sich geladen haben, die Zeugen der menschlichen Freiheit zum Bösen geworden sind, Raskolnikov in „Schuld und Sühne“, Stavrogin in den „Dämonen“ oder Iwan Karamasoff in den „Brüdern Karamasoff', vielleicht der Krönung und dem Vermächtnis des Schaffens Dostojewskijs zugleich.
Denn Dostojewskij bietet letztlich keine Lösungen. „Das einzige, was ich mein Leben lang getan habe, war das zu Ende zu treiben, was all ihr anderen nicht weiter als bis zur Mitte wagtet“, heißt es einmal in den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch.
Ob es sich dabei um die beängstigende - inzwischen Wirklichkeit gewordene - Karikatur einer Revolutionstheorie handelt, wie in den „Dämonen“, wo die Forderung unbeschränkter Freiheit zwangsläufig in die unbeschränkte Tyrannei mündet; oder um den ungläubigen Mystiker Kirillov, der sich erschießen muß, um seine Freiheit und die Nicht-Existenz Gottes zu beweisen; oder um Iwan Karamasoff, dessen moralische Empörung gegen eine Schöpfung, in der es das Leiden der Kinder gibt, im „alles ist erlaubt“ endet -
Dostojewskij versperrt uns billige Ausflüchte.
Die Verwerfung des Heiles, die Unannehmbarkeit der Wahrheit, Ewigkeit und Harmonie um den Preis des Leidens der Kinder, weist die Fragenach der Freiheit in messerscharfer Verknüpfung moralischer, metaphysischer und religiöser Ebenen in eine Dimension, in der alle Rationalität zuschanden wird, in der es vielleicht in der Tat nur mehr den Sprung in den Glauben geben kann, den ein Zeitgenosse Dostojewskijs, Sören Kierkegaard, verkündete.
Die Erben des Karamasoffschen „alles ist erlaubt“ werden weniger von Skrupeln behaftet sein. Iwan Karama- soffs Anklage gegen eine Schöpfung, in der unschuldige Kinder leiden, wird ebenso mißbraucht werden durch die alten und neuen Großinquisitoren, deren Bau von Kirchen wir täglich beobachten können, und die ihre rationalen Gründe glaubwürdig vortragen, um dem Menschen die Last der Freiheit zum Guten und zum Bösen zu nehmen, darüber zu befinden und zu entscheiden.
Man hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß Dostojewskijs Empörer, daß die Schuldiggewordenen, die Zerrissenen, die gewissermaßen „negativen“ Gestalten eine ungeheure Plastizität aufweisen, denen gleichsam nur mühsam erarbeitete „positive“ Figuren gegenüberstehen. Das mag seine Richtigkeit haben.
D ostojewskijs Werk wäre auch weniger bedrängend, weniger aufwühlend, fänden wir hier endgültige Antworten. Denn der Gott- und Sinnsucher Dostojewskij hat letztlich Fragen mit weiteren Fragen beantwortet.
Der Kuß Christi in der Legende vom Großinquisitor gibt uns neue Rätsel auf, er verschärft gleichsam die Frage nach Gott von neuem, uns vor die Herausforderung stellend, ob nicht das ganze Problem, über dem Iwan schließlich in den Wahnsinn zusammenbricht, von der intellektuell-rationalen Ebene heruntergeholt werden muß. Nicht von ungefähr geht Iwan Karamasoff vom Leiden der Kinder aus und nicht von ungefähr endet der Roman mit einer Bejahung der Unsterblichkeit durch seinen Bruder Aljoscha im Gespräch mit Kindern.
Auch hier macht Dostojewskij, dessen Glaube den Atheismus vielleicht als wesenskonstitutives Element aufgenommen hat, letztlich nichts anderes als ernst mit dem Evangelium, das bis in unsere Tage so vielfältig untersucht, analysiert, ent- und auch wieder re- mythologisiert, erklärt und erläutert, modernisiert und als soziale Botschaft interpretiert wurde.
Im Schmelztiegel der Auflehnung gegen Gott, der intellektuellen Leidenschaften, der moralischen Empörung gegen eine von Tod und Leiden geprägte Verfassung der Welt bleiben die Liebe, vornehmlich die zu den Kindern, die nahezu einfältige Güte der „Idioten“ und die Hoffnung auf das Volk, das russische Volk der Erniedrigten und Beleidigten, jene Hinweise und Andeutungen, die uns Dostojewskij hinterlassen hat.
Die Versuchung des Nihilismus, die Sinnlosigkeit allen Seins mit ihren praktischen, ethischen und politischen Konsequenzen bis zu Anarchismus und Terrorismus ist von Dostojewskij radikal ausgetragen worden. Ihr kann allenthalben mit dem Purgatorium der
allgemeinen Schulcf begegnet werden, das am deutlichsten wiederum in den „Brüdern Karamasoff* vom Mönch Sosima ausgesprochen wird, „daß nämlich jeder Mensch für alle und alles schuldig ist.“
Erst wenn diese leidvolle Einsicht akzeptiert und verwirklicht wird, kann jene Liebe realisiert werden, die nach Dostojewskij die Liebe Christi, christliche Liebe wäre.
Die Absage an die Sozialutopien seiner Jugend, das tiefe Mißtrauen gegenüber revolutionären Ideologien hat nicht zuletzt seinen Grund in deren menschenverachtender Tendenz, die Dostojewskij entlarvte und deren Realisierung er visionär vorwegnahm.
Dostojewskij, dessen Gestalten uns oft wie menschgewordene Ideen entgegentreten, oder wie Menschen, die ausschließlich von einer Idee beseelt und bis zur Besessenheit verschlungen sind, stellte keine Ideen über den Menschen. Auch darin ist er zum ständigen Warner und Mahner der Gegenwart geworden.
Dostojewskij hat unerbittlich die theologischen Hintergründe und Voraussetzungen politischer Entwürfe aufgespürt, wie er auf den tiefen Zusammenhang zwischen religiösen und moralischen Ideen verwiesen hat, auf den zwischen Sinn- und Gottesfrage und unserer Freiheit, zwischen Gut und Böse zu wählen.
Wir haben inzwischen unendlich viel an Wissen über den Menschen angehäuft, wir vermehren es nahezu täglich. Ob dies aber ausreicht, auch nur den Fragen Dostojewskijs näherzukommen, läßt sich füglich bezweifeln. Dieser seltsame Russe bleibt eine Frage an uns, um die wir nicht herumkommen.
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