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Geschichte Sowjetrußlands 1917—1941

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Von Erdmann Hanisch. Verlag Herder, Freiburg. 306 Seiten

Wenn dieses Buch „Materialien zur Geschichte .. .* heißen würde, 60 wäre gegen das Werk nicht viel einzuwenden. So aber muß gesagt werden, daß eine dürftige Aufreihung offizieller Fakten noch lange keine Geschichte ist. Diese ist doch, nach Ranke, Bericht davon, „wie es wirklich gewesen i6t“, und dazu gehören perspektivische Gliederung der Vorgänge, Lebendigmachen der führenden Persönlichkeiten, Faßbarmachen der seelischen Fluktuationen und noch manches andere. Statt dessen enthält das Buch ungefähr da66elbe, was in jener Epoche auch in den Journalen gestanden hat. Dabei hält es aber auch am Faktischen nicht immer Stich. Heute wissen wir zum Beispiel, daß die Ermordung Kirows (1934) eine entscheidende Umschaltung der Innenpolitik bedeutete: der Name Kirow wird überhaupt nicht erwähnt. Die Massakers von 1937/38, die ebenfalls von größter Bedeutung waren, werden 60 nebenbei registriert, ohne daß auf die Hintergründe der Vorgänge eingegangen wird. In den religiösen Kämpfen der zwanziger Jahre spielte die bolschewistische Gründung der „Lebendigen Kirche“, welche die Orthodoxie niederzwingen sollte, eine beträchtliche Rolle: das Buch schweigt sich darüber aus. Im kulturgeschichtlichen Teil, der über eine Aufzählung von Namen kaum hinauskommt (wobei 60 wichtige Gestalten wie der Fabeldichter Demjan Bedny und die Satiriker Ilf und Pe-trow fehlen), wird der Emigrant Strawinsky tatsächlich zu den „sowjetischen Tondichtern“ gerechnet! „Eine Warnung durch die Partei scheint diesen (...) berühmten Tondichter nicht getroffen zu haben.“ Wie sollte sie ihn treffen, da er in Kalifornien lebtl In der

Architekturübersicht wird das wichtigste Faktum — die Rückwendung zum Alexandrini-6chen Empire — nicht erwähnt. Dem Buch wird nachgerühmt, daß sein besonderer Vorzug in der betonten Sachlichkeit liege. Indessen wird über das tschechische Vorspiel zur Münchner Konferenz folgendes gesagt: „Diese Unterdrückung der eingegliederten Nationalitäten mußte die völkisch gesinnten Elemente, namentlich der beiden stärksten Völkergruppen, der Deutschen und der Slowaken, in entschiedene Opposition gegen die Prager Regierung bringen. Die Sudeten-deutsche Partei und die Slowakische Volkspartei waren dabei die Träger des völkischen Bewußtseins ihrer Nation ... Die Forderung Hitlers und die dadurch bedingte Zurückhaltung Englands entschied die Krise zuungunsten der Tschechoslowakei.“ Es war also alles in Ordnung. Das heißt die Sachlichkeit denn doch etwas zu weit treiben. Als ob es nicht zur Sache gehörte, daß Konrad Henlein von Hitler strengste Weisung erhielt, unannehmbare Forderungen zu stellen und es keinesfalls zu einer Einigung kommen zu lassenl Das Buch tet heute überholt, denn die Amerikaner zum Beispiel 6ind in der Erkenntnis russischer Vorgänge bereite viel tiefer und weiter gekommen. So bleibt nur noch zu erwähnen, daß der Text des Werkes sich zuweilen in gewissem Gegensatz zu den Ge-Sbtzen der deutschen Sprache befindet.

Eine nicht immer zuverlässige Materialsammlung, die dem Fachmann bisweilen Dienste leisten mag, deren Lektüre jedoch dem Laien, der Uberblick sucht, abzuraten ist.

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