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Von einem Krieg in den nächsten

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WELTGESCHICHTE DER NEUESTEN ZEIT. Band III. Von J. R. v. Salis. Orell-Füßli-Verlag, Zürich. XVI S42 Seiten. Preis 316.80 S.

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WELTGESCHICHTE DER NEUESTEN ZEIT. Band III. Von J. R. v. Salis. Orell-Füßli-Verlag, Zürich. XVI S42 Seiten. Preis 316.80 S.

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In Fortführung seines 1951 begonnenen Vorhabens, die Weltgeschichte seit etwa 1871 darzustellen, legt der ausgezeichnete schweizerische Historiker und Publizist nun den vorläufig letzten Teil seines großen Werkes vor. Es besitzt alle Vorzüge der früheren Bände: klare Gliederung; angenehme Erzählweise; vortreffliche Charakteristiken der führenden Männer, der politischen Strömungen und der gesellschaftlichen Zustände; grundsätzliche Unbefangenheit; umfängliche Kenntnis der Tatsachen, der Literatur in westlichen Sprachen; geschulten politischen Blick; trotz Objektivität einen unverrückbaren, festen Standort — den des liberalkonservativen Demokraten —; fast nachtwandlerische Sicherheit im Aufspüren oft verborgener Zusammenhänge.

Gegenüber allen seinen Vorzügen verblassen die nicht vermeidbaren Einzelirr- tümer — wenig zahlreich und meist unbeträchtlich — und die seltenen Fehlurteile oder Ungenauigkeiten. So stimmt es nicht, daß man in Wien während des ersten Weltkriegs einen österreichischen Erzherzog als König in Polen einzusetzen trachtete. Ursprünglich war eine trialisti- sche Lösung geplant, die eine Realunion Polens mit Österreich und Ungarn vorsah. Noch im Februar 1918 sollte Karl I. zum polnischen Herrscher ausgerufen werden, als der törichte „Brotfriede“ von Brest-Litowsk dieses Konzept verdarb. Bei der trefflichen Besprechung der Ursachen des Untergangs der Habsburgermonarchie (S. 130) sollte die Rolle antikirchlicher Sphären nicht übersehen werden. Nicht König Karl IV., sondern der „Homo regius" Erzherzog Josef hat dem Grafen Kärolyi die Macht überantwortet (S. 161). Es ist irrig (S. 212), die Tschechoslowakei etwa mit Polen und Ungarn in einen Topf zu werfen; sie war, was man auch sonst über ihr Regime denken mag, eine durchaus westlich gesinnte Demokratie. S. 215: Hugo Ball ist kaum geeignet, als ebenbürtig neben Paul Claudel, Chesterton und Papini zum führenden Zeugen der katholischen Renaissance aufgerufen zu werden, sowenig wie Scheler die religiöse Umkehr in der Philosophie repräsentativ verkörpert. Statt dessen wären Theodor Haepker und Gertnid. yoni M ¡Ja , jfe Denker Maritain, Guardini, Gemelli zu nehnen gewesen. S. 350: Mussolirii # • keineswegs ungebildet. S. 3171 Der polnische Außenminister hieß Skrzynski, nicht Skynski. S. 379 f.: An dieser Stelle ve mißt man besonders jede Beachtung der religiösen Fragen. Die Kirchenverfolgung in der UdSSR und das spätere Abflauen waren mindestens zu streifen. S. 385: In Hoovers Porträt mangeln die sympathischesten Züge, nämlich seine Rolle als Helfer im kriegsverwüsteten Europa nach 1918.

Die sehr tiefen und geistreichen Auseinandersetzungen über die völkerpsychologischen und ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus (S. 465 ff.) vermögen dennoch nicht, Vermeils These vom romantischen Ursprung und von der dadurch bedingten romantischen Wesenheit dieser Weltanschauung zu zerstören.

S. 471 f.: Sehr zu bedauern ist, daß der schier untrügliche Scharfblick des Verfassers in seinen, aus zweifelhafter politischer Polemik stammenden Bemerkungen über Hitlers angebliche jüdische Abkunft im Vatersstamm einen unwissenschaftlichen Tratsch ernst genommen hat. Salis scheint die fachkundliche Literatur über die Vorfahren des „Führers“ nicht zu kennen. Wir besitzen eine sehr gute, quellenbelegte Ahnentafel Hitlers, die in einigen Linien bis in hohe Generationen hinaufreicht und zum Beispiel Verwandtschaft mit Kardinal Khlesl, Robert Hamer- ling aufzeigt. Sie bietet ein seltenes Beispiel für absolute nationale und ständische Einheit: Herkunft von niederösterreichischen Bauern. Der physische Typus Hitlers ist in den Gegenden seiner Ahnen weit verbreitet. Es ist ein vielen nationalsozialistischen Rasseforschem und deren Widersachern gemeinsamer Irrtum, Deutsch mit Nordisch zu identifizieren. Die seit mehr als einem Jahrtausend deutschen Landstriche zwischen Donau und Böhmerwald, Thaya und March werden von einer rassisch sehr gemischten Bevölkerung bewohnt, deren Habitus gar sehr etwa von dem eines Westfalen oder Niedersachsen abweicht. Für die angebliche Vaterschaft eines Juden bei Hitlers aus einem außerehelichen, später durch Legitimierung sanierten Verhältnis stammenden Erzeuger gibt es nicht den leisesten Beweis. Dagegen wissen wir aus den vorerwähnten genealogischen Publikationen,

daß Vater und Mutter Hitlers miteinander blutverwandt waren; beide von den Hitler (Hiedler usw.) herkamen; daß die väterlichen Großeltern Hitlers dem gleichen Milieu angehörten. Alles Nähere, mit vielen Quellenauszügen, bringt die im Stamm- und Ahnentafelwerk der Zentralstelle für Deutsche Personen- und Familiengeschichte enthaltene vorgenannte Ahnentafel. S. 48 8: Im vorzüglichen Abschnitt über die letzten Jahre der Dritten Republik vermissen wir einen Hinweis auf die Bewegung des Obersten La Roque, dann auf die politische Stellung des Comité des forges. S. 501: Die Ursachen der britischen

Königskrise vom Dezember 1936 lagen nicht so einfach, wie man das Salis’ Bericht ablesen könnte. Eduards VIII. Heirat war nur Vorwand und Anlaß zu einem Konflikt, der sehr schwerwiegende außen- und innenpolitische Aspekte besaß (auf die hier aus Raummangel nicht näher eingegangen werden kann).

Aus den kurzen Betrachtungen über Irland iS. 506) spricht eine ebenso unverkennbare wie ungerechte Animosität, „untolerantes nationalistisches und klerikales Denken“ einem Staat mit stärket katholischer Mehrheit zuzuschreiben, det sich freiwillig einen protestantischen Präsidenten erkor. Ähnliche Vorbehalte gilt es zu Salis’Würdigung der österreichischen Geschichte unter Seipel, dessen Nachfolgern und dem Ständestaat anzumelden (S. 579 ff.). Zwei wichtige Episoden werden dabei nicht berührt: die geplante Heirat Marias von Savoyen mit dem Kronprätendenten Otto, die zu einet Restauration unter italienischem Protektorat geführt hätte, und die Verhandlungen Schuschniggs mit Horthy und Hodza, die den eigentlichen Anstoß zum deutschen Einmarsch gaben. Die Lorbeeren, die Benes gewunden werden (S. 603), verwelken sofort vor dem einen Ausspruch des tschechoslowakischen Präsidenten, der — obzwar er sich „über Hitlers Absichten und Hintergedanken keinen Trug-

schlüssen hingab“ — erklärte: „Lieber Hitler als Habsburg.“ Die Minderbeachtung der Geschehnisse im Osten — mit Ausnahme der UdSSR — tritt mehrfach in der stoffsatten, wohlgegliederten und fesselnden Darstellung der Politik im zweiten Weltkrieg hervor. So wird kein Wort über die Kämpfe auf der Halbinsel Heia und in Narvik gesagt. Graf Teleki, der ungarische Ministerpräsident, dessen tragischer Selbstmord nicht nur ein leuchtendes und seltenes Beispiel von antiker Größe und politischem Ethos war, sondern auch einen mitentscheidenden Einfluß auf den Verlauf der Ereignisse hatte, wird nicht einmal mit Namen erwähnt (S. 681, 736 ff.).

Die im Kern richtige Darstellung der polnischen Dinge leidet an einigen Irr- tümern, die auf Unkenntnis der polnischen und sowjetischen Publikationen — vor allem Komarnickis und Kots — zurückgehen. Stalin war zweifellos von vornherein entschlossen, nur ein völlig von ihm abhängiges, kommunistisches Polen zu dulden, das er im Osten um die im Namen des Nationalitätenprinzips geforderten sprachruthenischen und bjelorussi- schen, litauischen Gebiete verkleinerte, dagegen im Westen auf deutsche Kosten ausdehnte, um Polen und Deutsche gründlichst miteinander zu verfeinden. Was immer eine nichtkommunistische polnische Exilregierung getan hätte, daran wäre nichts zu ändern gewesen, wenn — wie das geschah — der militärische Plan Churchills, die große Invasion über Italien, durch Österreich und Ungarn schnell nach Polen zu lenken, abgelehnt wurde. Sodann: der Warschauer Aufstand vom September 1944 war kein spontaner Verzweiflungsausbruch, sondern ein zutreffenden politischen und falschen militärischen Erwägungen entspringender, aus London ferngelenkter Schachzug zur Rettung eines nichtkommunistischen Polen.

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