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Der Strom der Dichter und — Touristen

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Es gibt natürlich noch die alte, poetische Wolga — für die Touristen. Von Nischnij Nowgorod, also von Gorkij ab, kursieren die großen, dreistöckigen Passagierdampfer, die den Mississippischiffen so ähnlich sehen. Eigentlich ist die Fahrt (die Talfahrt von Gorkij bis Astrachan dauert etwa drei bis vier Tage) landschaftlich langweilig. Denn die Ufer sind flach und eintönig. Das rechte Ufer heißt zwar die Bergseite, doch sieht man natürlich nirgends Berge. Es gibt zwar eine Hügellandschaft, die offiziell Schiguli heißt, vom Volksmund auch Wolga-Schweiz genannt, doch handelt es sich nur um dicht bewachsene, sehr niedrige Hügel. Um diese Hügel winden sich sehr viele alte Erzählungen und Legenden. Daher sind sie den Russen lieb. Und trotzdem ist die Reise sehr interessant. Die Menschen, die man sieht und spricht, machen es. Es ist ein buntes Leben. Aeußerlich betrachtet, scheint der große Strom wieder ein internationaler Fluß geworden zu sein. Denn den Resten der vielen Völker, die einst hier gelebt und die Mehrheit gebildet haben, ist nationale „Autonomie“ verliehen worden. Da sind die autonomen Sowjetrepubliken der Tschuwaschen und der Mordwinen, beides finnische Völkerschaften, deren Stammesgenossen vor den Slaven die ganze osteuropäische Tiefebene bewohnt haben. Zu derselben Gruppe gehören auch die Mari mit ihrer eigenen Sowjetrepublik, die 600.000 Einwohner zählt. Die größte dieser Republiken ist die autonome tatarische Sowjetrepublik mit ihrer historischen Hauptstadt Kasan. Die einstigen Beherrscher der Wolga und des ganzen Rußlands, die Nachkommen Dschingis-Khans, haben jetzt einen Staat von etwa drei Millionen Menschen. Die Hauptstadt zählt rund 400.000 Einwohner. Und doch sind die Tataren eine Minderheit in ihrer eigenen Republik. Einst suchten die Zaren die mohammedanischen Tataren zu russifizieren. Sie sind wiederholt enteignet worden, ihr Boden wurde russischen Adeligen übergeben. Von Zeit zu Zeit kamen in die tatarischen Dörfer Kosaken, trieben die ganze Bevölkerung in den Fluß, und ein Pope taufte sie summarisch. Damit waren sie „Russen“. An Schulen mit tatarischer Unterrichtssprache gab es nur die religiösen Koranschulen, an denen gar keine weltlichen Unterrichtsfächer gelehrt werden durften. Das scheint heute anders. Es gibt ein weites Netz von Schulen aller Stufen mit tatarischer Unterrichtssprache. Es erscheinen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften in tatarischer Sprache. Es gibt ein tatarisches Theater. Doch statt des früheren arabischen Alphabetes müssen jetzt die Tataren das russische gebrauchen. Die Moskauer Propaganda kommt also einfach mit tatarischem Buch, Schule und Theater der Bevölkerung näher. In Wirklichkeit, beinahe ganz unmerklich, russifizieren sich die „Fremdvölker“ sehr rasch. Heute sprechen verhältnismäßig viel mehr Tataren russisch als vor 1917. Die Kasaner Universität ist eine der ältesten Rußlands. Sie ist 1804 gegründet worden. In den 113 Jahren bis zur Revolution 1917 studierten an dieser Universität bloß sechs Tataren. 1945 waren an dieser Universität 1140 tatarische Studenten immatrikuliert. Und doch gehen, wenn nicht diese Studenten selbst, so doch ihre Kinder dem tatarischen Volkstum verloren. Zwei „Nationale Autonomien“ an der Wolga sind übrigens nach dem zweiten Weltkrieg gewaltsam liquidiert und ihre Bevölkerung größtenteils deportiert worden. Es sind das die Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, der Nachkommen der unter Ekaterina II. ins Land gerufenen Kolonisten, und das „Autonome Gebiet“ der nomadisierenden buddhistischen Kalmüken in den Steppen am Wolgadelta. Das Wolgadelta mit seinen vielen Armen ist vollgepfropft mit Fischerdampfern und Barkassen. Früher gingen die Fischerflotten saisonmäßig ins Meer. Es gab damals auch ein Schiff, das, als russische Kirche eingerichtet, mit in See stach. Sonntags legten sich die verschiedenen Fischerbarken, Dampfschiffe und Boote rings um die „schwimmende Kirche“, um dem Gottesdienst beizuwohnen. Heute wird beinahe das ganze Jahr hindurch gefischt. Die Fischer kommen in die nördliche Bucht des Kaspischen Meeres von zwei Seiten her, von der Wolga und vom Uralfluß. Wie einst, sind auch jetzt diese Fischer in Genossenschaften organisiert. Doch jetzt sind diese Genossenschaften staatlich geleitet. Hier und am persischen Ufer des Kaspischen Meeres befinden sich die einzigen Fischgründe der Welt, in denen der berühmte Störkaviar gewonnen wird. Hier an der Wolga ist er so billig, daß man wirklich sagen kann: Kaviar für das Volk.

Die Wolga ist industrialisiert, durch große Kanäle mit den fünf Meeren verbunden, sie isj nicht mehr dieselbe wie vor einem Vierteljahrhundert. Doch jetzt wird sie vollständig umgestaltet. Es handelt sich um den Ausbau der Großkraftwerke. Die Kraftwerke an der oberen Wolga stehen schon. Bei Iwankowo, am Beginn des Moskwa-Wolga-Kanals, bei Rybinsk und Uglitsch, sind die Großkraftwerke fertig. Staumauern haben hier Seen entstehen lassen. Der nächste Staudamm und das Großkraftwerk ist bei Gorkij geplant. Im Bau ist bereits und sieht seiner Vollendung entgegen das Kujby-schewer Wasserkraftzentrum. Es soll eine Leistungsfähigkeit von drei Millionen Kilowattstunden täglich haben, nach Meinung der Russen also das größte Kraftwerk der Welt werden. Dann sind weitere Kraftwerke an der unteren Wolga geplant. Wenn dieser große Plan verwirklicht sein wird, dann verändert sich vollkommen das alte Mütterchen Wolga. Dann wird der große Strom zu einer Treppe von Dämmen und Staubecken. Die ganze Wolga wird zu einer Kette langer, an einzelnen Stellen Dutzende von Kilometer breiter Seen werden. Die Wolgaflotte wird dann auch ersetzt werden müssen, denn die flachgehenden Raddampfer würden mit dem Wellenschlag nicht fertig werden, den Stürme auf solchen großen Wasserflächen hervorrufen können.

Das ist ein großer volkswirtschaftlicher Plan. Doch auch noch etwas anderes. Die Wolga wird dann erst recht zu einer unüberschreitbaren Barriere für einen eventuellen Gegner. Hinter dieser Maginotlinie aus Wasser hat die Sowjetunion dann alles, was sie zum Kriegführen braucht: Industrie, Rohstoffe, Lebensmittel. Gerade schon in der Nähe von Kujbyschew sieht man in den Tälern der „Wolga-Schweiz“ da und dort Gruppen von Bohrtürmen. Etwas weiter die charakteristischen Konturen einer Erdölraffinerie. Hier wird bereits Erdöl gewonnen. Die Geologen haben einen ausgedehnten Erdölbezirk entdeckt, der sich vom Ural bis an die Wolga ausdehnt. Man nennt bereits diesen Bezirk das „zweite Baku“. Die Bohrungen werden intensiv betrieben. Das wirkliche Baku selbst Hegt zu sehr an der Peripherie des Reiches. So wird für den Kriegsfall auch Rohöl hinter der Wolga bereitgestellt.

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