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3.000 Kilometer dreckige Brühe

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„ Hier wird die Reinheit der russi- schen Erde geboren / Hier liegen die Wurzeln der russischen See- le...", heißt es auf dem Gedenkstein bei der Wolgaquelle. Die Poesie täuscht, ein Nachruf wäre passen- der: Die Wolga, mit 3.520 Kilome- tern der längste Fluß Europas, er- stickt im Dreck.

Früher legte das Wasser die Strek- ke von Rybinsk, am Oberlauf, bis Wolgograd (Stalingrad) in 30 Ta- gen zurück. Jetzt dauert die Reise fast eineinhalb Jahre. Neun gewal- tige Staudämme sperren den Lauf. Hunderttausende Hektar an frucht- baren Schwarzerdeböden wurden der Überflutung preisgegeben. In den Stauseen, stinkenden Faulwas- sertümpeln gleich, sammeln sich die Giftstoffe der Industrieabwässer. In den gewaltigen Staubecken ver- mehren sich mit furchterregender Geschwindigkeit Algenkolonien, darunter auch die der extrem gifti- gen Blaualge. Zwanzig Prozent der sowjetischen Nutzfische, darunter der Kaviarproduzent Stör, sind in der Wolga beheimatet. Doch diese wichtige Eiweißquelle - die Russen sind Fischesser - ist im Versiegen. So sind etwa bei Kuibyschew 80 Prozent der noch vorhandenen Fischbestände von Würmern zer- fressen. Die Laichplätze sind ver- dorben, das Plankton wird beim Passieren der Turbinen der Stau- dämme zerstört. Jährlich werden 18 Milliarden Kubikmeter Indu- strieabwässer in den Strom abge- lassen. Die Wasseroberfläche ist übersät mit schillernden Ölflecken, die Fluten sind grauschwarz.

Exemplarisch rüffelte die „Praw- da" eine Chemiefabrik bei Saw- scholsk, die jährlich neun Millio- nen Kubikmeter Abwässer in den Strom leitet, „wobei ein Teil davon besonders aggressive und praktisch nicht neutralisierbare toxische Stoffe enthält". Als die Genossen reumütig die Errichtung einer An- lage, die die Giftwässer in tiefere Bodenschichten hinunterpumpen sollte, gelobten, schlugen die Hy- drologen Alarm: Auf diese Weise würde das Grundwasser der gan- zen Region vernichtet!

Derartige Kurzschlüsse sind die Norm: Anstelle die Schließung des Zellulose- und Papierkombinats am Baikalsee, der ein Fünftel der Süß- wasserreserven der Welt speichert, zu verordnen, wird eine Umleitung des Schmutzwassers in den sibiri- schen Fluß Angara erwogen.

Aber nicht nur Abwässer machen der Wolga zu schaffen. Ein ehrgei- ziges Bewässerungsprojekt könnte bald den Strom im Unterlauf zu einem kümmerlichen Flüßchen verkommen lassen. Das Problem- feld: Die Kalmückische Republik droht zu verwüsten. Pro Stunde verschwinden fünf Hektar Weide- land unter den Sanddünen. Im letz- ten Jahr wuchs die Wüste um 560.000 Hektar. Im Sommer toben Sandstürme, und das Thermometer klettert auf über 60 Grad Celsius im Schatten (die Republik liegt auf derselben Höhe wie Jugoslawien).

Die Moskauer Planer wollen nun mit Hilfe eines 350 Kilometer lan- gen Kanals von der Wolga nach Tschograi die Bewässerung und somit die Rettung des Gebietes ermöglichen. Hunderte von Inge- nieuren und Technikern arbeiten bereits an der Realisierung des Projektes.

Aber die Experten der Akademie der Wissenschaften meinen, daß die Hitze einerseits und das Schmutz- wasser andererseits die Übersal- zung und somit Verwüstung des Gebietes nur beschleunigen wür- den. Aber das Ministerium für Wasserwirtschaft wehrt sich ver- bissen gegen die geforderte Ein- stellung der Arbeiten. Argument: Die bereits investierten zehn Mil- lionen Rubel (Gesamtkosten: fünf Milliarden Rubel) sollen auch ein Ergebnis zeitigen! Akademiemit- glied und Biologe Boris Laskarin ist erschüttert: „Diese Logik ist selbstmörderisch. Es ist so, als ob jemand sagt: Da ich das Geld für den Revolver schon ausgegeben habe, muß ich mir auch eine Kugel durch den Kopf jagen." Dabei wäre dem Problem der Verwüstung ein- fach und billig beizukommen: Den Kahlfraß durch die riesigen Vieh- herden einstellen und dem Weide- land Zeit zur Regeneration lassen!

Inzwischen hat sich in Elista, der Hauptstadt der Republik, schon eine mächtige Umweltbewegung, genannt „Kalmückische Steppe", etabliert. In Kalinin wurde im Jän- ner des Vorjahres der Verein „Komitee zur Rettung der Wolga" gegründet.

Das Komitee fordert den Wieder- aufbau von Kirqhen und Dörfern, Pflege der lokalen Traditionen und Dialekte sowie die Revitalisierung des russischen Bauerntums ganz allgemein. Auf technischem Sektor sind die Forderungen ebenfalls radikal: So sollen die Wolga-Kama- Kraf twerkskette zurückgebaut, der riesige Stausee von Rybinsk abge- lassen, und der Bau des Wolga-Don- Kanals II eingestellt werden.

Der Staat hat ganze Städte und Tausende Dörfer überfluten lassen, die Rettung des Wolgalandes liegt wohl allein in privaten Händen.

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