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Zeitbomben aus Brasilien
Rund tausend Menschen drängten im Mai in Wien zu einem Vortrag des aus Vorarlberg stammenden „Indianerbischofs" Erwin Kräutler (Xingu), der ein Plädoyer für die Schöpfung hielt.
Rund tausend Menschen drängten im Mai in Wien zu einem Vortrag des aus Vorarlberg stammenden „Indianerbischofs" Erwin Kräutler (Xingu), der ein Plädoyer für die Schöpfung hielt.
Nicht nur die Indianer und ihr Land sind Opfer von allen möglichen Gewaltakten. Die gesamte Umwelt, insbesondere in Amazo-nien, wird heute skrupellos ausgebeutet und zerstört. Unsere Flüsse sind vom Quecksilber der Goldwäscher verseucht. Jährlich gehen über 140.000 Kilogramm Quecksilber in die Flüsse Amazoniens. Damit werden die Flora und Fauna der Gewässer brutal geschädigt, und kurzfristig ist mit einer furchtbaren Bedrohung für die menschliche Gesundheit zu rechnen. Jedes Jahr werden Tausende von Quadratkilometern tropischen Regenwaldes eingeäschert.
Die Brandrodungen verwandeln diese Region zu bestimmten Jahreszeiten in ein gigantisches Flammenmeer. In Rondonia wurde jede Minute die Fläche eines Fußballfeldes abgebrannt. Das Bild der Zerstörung in Amazonien, ob durch das Abholzen und das Ausbeuten der Edelhölzer, oder durch die Brandrodung, ist Wechselspiel von Verantwortungslosigkeit und Ignoranz und beschert der ganzen Welt unzählige Zeitbomben.
Proteste, innerhalb und außerhalb von Brasilien, ließen nicht auf sich warten. Die Weltöffentlichkeit erfuhr in ihrem ganzen Ausmaß von der Tragödie, die sich im brasilianischen Amazonien abspielt. Die vergangene Regierung reagierte sofort und absurd und bezichtigte kurzerhand alle Demonstranten der Konspiration gegen die Souveränität Brasiliens. Die Umweltpolitik wurde der direkten Kontrolle des Sekretariates für Nationale Verteidigung (SADEN) unterstellt und das Programm „Nossa Natureza" („Unsere Natur") kreiert. Konkret geschah allerdings nichts oder fast nichts.
Die Ernennung von Jose Lutzenberger zum Vorsitzenden des Staatssekretariates für Umweltfragen fand auf nationaler und internationaler Ebene viel Sympathie. Allerdings erfüllt uns mit Sorge, daß dem Nationalen Rat für Umweltfragen (CONAMA), in dem Vertreter von Nicht-Regierungs-Organisationen Sitz und S.timme hatten, die Einflußnahme in wesentliche Bereiche entzogen wurde. Außerdem erhielt das neue Sekretariat für Strategische Angelegenheiten eine Vorreiterrolle in der Durchführung dieser Politik zugesprochen, was nichts anderes bedeutet, als daß bei Umweltproblemen weiterhin die „Nationale Sicherheit" im Vordergrund steht.
Eines ist sicher: Werden nicht entsprechende Maßnahmen getroffen, um dieser Tragödie entgegenzuwirken, können wir uns alle auf ein unerbittliches Gericht von den kommenden Generationen gefaßt machen. Die Folgen der Verantwortungslosigkeit und Ignoranz unserer plündernden und zerstörenden Generation kann dann aber leider auch ein Gericht nicht mehr rückgängig machen.
Wenn wir die Indianer-Völker und ihren Lebensraum verteidigen, geht es dabei gleichzeitig auch um die Zukunft unserer Kinder, Enkel und Urenkel. Wenn wir das Land, die jahrhundertealte Erfahrung und das Leben, beispielsweise der Ya-nomami, verteidigen, ihre Flüsse vor dem Quecksilber der Goldwäscher schützen, ihre Wälder vor der Motorsäge der Holzhändler, ihre Gebiete vor der Überflutung durch Staudämme, ihre unbeschwerte Lebensart vor der „Gewinnbeteiligung", die ihnen als Ersatz für ihre kulturelle und physische Ausrottung aufgedrängt wird, kämpfen wir damit gleichzeitig für die Zukunft Brasiliens und des ganzen Planeten. Die frohe Botschaft des Lebens, die wir den Indianer-Völkern verkünden wollen, ist gleichzeitig eine frohe Botschaft für Brasilien und die Welt.
Der enge Zusammenhang zwischen der Zerstörung der Menschen, ihrer Kulturen und ihrer Mit-Welt zeigt sich schon ganz klar bei der „Konquista". Die Eroberung von Mexiko zum Beispiel hat nicht nur Völker und Kulturen ausgelöscht, sondern auch die Mit-Welt der Indianer zerstört. Der Tenochtit-lan-See im Mexiko der Eroberer wurde trockengelegt, der Ackerbau der Azteken durch Viehzucht verdrängt und Getreide in Monokulturen angebaut. Dadurch wurde das Mexiko-Tal schon vor der Industrialisierung in eine Halbwüste verwandelt. Hier wird deutlich, daß der Eingriff in Natur und Umwelt ein Angriff auf die wirtschaftlichen und organisatorischen Strukturen der Ureinwohner war und damit auf ihre kulturelle Identität.
Die Zerstörung der Mit-Welt und Kulturen dieser Völker ist nichts anderes als die Vollendung des Genozids durch eingeschleppte Krankheiten, durch Militäraktionen, Frondienst und Sklaverei, die Menschen zu Rohstoffen degradierten und zu auswechselbaren Bestandteilen im Produktionssystem. Fünf Millionen Indianer lebten vor der Konquista im Mexiko-Tal. Mitte des 18. Jahrhunderts war es nur noch eine Million. Bartolome de Las Cäsas, einer der radikalsten Gegner der Art und Weise der Eroberung, berichtet uns, daß „von drei Millionen Seelen, die es auf der spanischen Insel gab und die wir noch sahen, heute nur noch etwa 200 Personen übrig geblieben sind. Die Insel Kuba, die eine Länge hat wie die Strecke von Valladolid nach Rom, ist heute menschenleer".
Seit der Eroberung Amerikas beobachten wir die unheilvolle Wechselwirkung zwischen der Zerstörung menschlichen Lebens, der Zerstörung der Kulturen der verschiedenen Völker und der Zerstörung ihrer Mit-Welt. Die Geschichte der 500 Jahre Evangelisierung sollte uns lehren, daß^ der Einsatz für das physische Überleben der Indianer Hand in Hand gehen muß mit der Verteidigung ihrer Kultur und ihrer Mit-Welt. Wir sind heute von der engen Verbindung und dem untrennbaren Zusammenhang von Leben - Kultur - Mit-Welt mit dem Evangelium, der Botschaft des Lebens, überzeugt.
Allein schon mit der menschlichen Vernunft müßte man zu dieser Einsicht kommen. Die Zerstörung des Lebens, der Kultur und der Mit-Welt durch die Konquistadoren war nicht nur gegen das Evangelium sondern auch irrational, und wer gegen die eigene Vernunft handelt, agiert gegen die eigenen Ziele und sägt sich den Ast ab, auf dem er sitzt. Der Großteil der Konquistadoren verarmte in kurzer Zeit, und die Länder der Konquista des heutigen Lateinamerika, Spanien und Portugal, zählten schon im 18. Jahrhundert zu den ärmsten Europas.
Wer Brasilien wirklich als Heimat sieht und seine Einwohner liebt, muß sich heute die Fragen stellen:
Was bringt die Kosten-Nutzen-Rechnung bei Wasserkraftwerken, wie beispielsweise Balbina und Tucuruy? Wer kassiert den Gewinn aus den Goldgruben in den Gebieten der Kaiapö und Yanomami?
Welche Vorteile bringt die Erzeugung von Gußeisen und die damit verbundene unverantwortliche Zerstörung des Regenwaldes durch die Projekte im Gebiet von Carajäs?
Welchen Wohlstand brachte unserem Volk der Bau der Bundesstraße BR-364, die das angestammte Gebiet der Nambiquara durchkreuzt und sie in Not und Elend stürzte und nur den Interessen der Großgrundbesitzer entgegenkommt?
Wohin gehen die geplünderten Millionen und Millionen Kubikmeter Mahagoniholz und andere Edelhölzer, durch die der Amazonasurwald bis zum letzten Baum dieser Holzart beraubt wird? Welchen tatsächlichen Gewinn hat die Bevölkerung Amazoniens davon? Wo sind all die Holzreichtümer geblieben, die am Anfang unseres Jahrhunderts noch den Indianern Südbrasiliens gehörten?
Was bringt es der Bevölkerung Amazoniens, wenn katastrophale Brandrodungen den tausendjährigen Urwald in Weideland verwandeln? Hat sie dadurch mehr Fleisch und Milch und ihre bislang karge Ernährung mit Kalorien und Vitaminen angereichert?
Die Mit-Welt-Frage ist heute ein Synonym für die Verteidigung eines menschenwürdigen Lebens der zukünftigen Generationen. Für uns hat die Sorge um die Mit-Welt gleichzeitig eine soziale, politische und theologische Dimension. Wenn wir den . tropischen Regenwald Amazoniens verteidigen, stellen wir damit den Lebensraum und das Überleben der Völker in diesen Gebieten in den Mittelpunkt. Die Mit-Welt-Frage ist in diesem Sinne ein Zeichen der Zeit, mehr noch, ein Zeichen Gottes im Hier und Jetzt der Geschichte. Unser Glaube muß konkrete Formen der Solidarität annehmen. Der Schrei des geschundenen Menschen und der gequälten Mit-Welt muß uns zur Solidarität drängen, die über alle Grenzen von Völkern und Nationen hinausgeht.
Das IL Vatikanische Konzil sieht in der Menschwerdung Jesu Christi die theologische Wurzel der Solidarität. In Jesus ereignet sich die „neue Schöpfung". Die Welt, die Gott am Anfang der Zeiten geschaffen hat, wurde zum Raum der Heilsgeschichte im Bund Gottes mit Israel. Die Schöpfung - Schöpfung des Menschen, seiner Mit-Welt und des Universums - ist Voraussetzung für die Heilsgeschichte. Die Mit-Welt ist Voraussetzung für Befreiung. Die Indianer-Völker werden nur in ihrer Mit-Welt befreit. Ohne das Land, ohne die Flüsse und ohne den Wald gibt es keine „gute Nachricht" für die Indianer-Völker.
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