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Straße ins 21. Jahrhundert: Baikal-Amur-Eisenbahn

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Die Sowjetunion baut in der unwegsamen sibirischen Taiga unter äußerst ungünstigen Klimabedingungen die Baikal-Amur-Magistrale (BAM), deren Gesamtlänge von der Nordbaikal-Station Taischet bis zum Pazifikhafen Sowjetskaja Gawan 4265 Kilometer betragen wird. Die Presseagentur Nowosti stellt uns diesen Bericht zur Verfügung.

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Die Sowjetunion baut in der unwegsamen sibirischen Taiga unter äußerst ungünstigen Klimabedingungen die Baikal-Amur-Magistrale (BAM), deren Gesamtlänge von der Nordbaikal-Station Taischet bis zum Pazifikhafen Sowjetskaja Gawan 4265 Kilometer betragen wird. Die Presseagentur Nowosti stellt uns diesen Bericht zur Verfügung.

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Sibirien und der Ferne Osten nehmen drei Viertel des sowjetischen Territoriums ein. Schon vor 200 Jahren sah der russische “Gelehrte Michail Lomonossow die stürmische Entwicklung dieses Landes voraus und prophezeite, daß „Rußlands Macht aus Sibirien erwachsen“ werde.

Die erste Transsibirische Eisenbahn wurde 1902 fertiggestellt. Damals rollten zum erstenmal die Züge von Moskau bis zum Pazifikhafen Wladiwostok. Die Bahnstrecke verlief südlich vom Baikalsee und wurde unter der Sowjetherrschaft fast völlig rekonstruiert. Praktisch die ganze wirtschaftliche Tätigkeit in Sibirien war auf diese Eisenbahnlinie angewiesen. In den letzten 25 Jahren entstanden längs dieser Linie mehr als 700 neue Städte und Siedlungen.

Der Gedanke, eine zweite Eisenbahnlinie zu bauen,' kam in den dreißiger Jahren auf. Damals begann die beschleunigte Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens. Die Entwicklung der Industrie löste einen Zustrom von Ubersiedlern in den Osten des Landes aus, und die neue Eisenbahnlinie versprach, zu einer mächtigen Triebkraft für die Entwicklung der Industrie, für die Modernisierung der Transportverbindungen mit Sachalin, Kolyma und der Halbinsel Kamtschatka zu werden. Sie sollte 500 Kilometer nördlich der Transsibirischen Eisenbahnlinie verlaufen. 1941 waren Strecken fertig, die sich vom Westen über 130 Kilometer und vom Osten über 50 Kilometer erstreckten. Der Krieg verhinderte jedoch weitere Bauarbeiten.

Nach dem Krieg wurden die Pro-spektierungsarbeiten an der BAM-Trasse wiederaufgenommen, doch fehlten dem Staat die Mittel für die Finanzierung des Bauvorhabens, das schließlich stillgelegt werden mußte.

1967 wurde die Frage des Neubeginns wieder aktuell. Das Industriepotential Sibiriens garantierte nun ein ausreichendes Bautempo. Die geologische Erkundung aus dem Kosmos bestätigte die Vermutung der Wissenschafter, daß Ostsibirien und der sowjetische Ferne Osten, zusammen mehr als sechs Millionen Quadratkilometer, unermeßliche Naturschätze bergen. Die BAM galt nun nicht nur als ein Verkehrsweg, sondern als ein Aufmarschgebiet für den Vorstoß in den dünnbesiedelten Landesteil, um dessen Bodenschätze, Holz und Energiequellen zu erschließen.

Sibirien entwickelt sich heute doppelt so schnell wie die westlichen Gebiete der UdSSR. Die BAM wird diese Entwicklung noch stärker beschleunigen. Mit ihrer Fertgigstellung beginnt die intensive Erschließung eines gewaltigen Territoriums, das mit 1,5 Millionen Quadratkilometern so groß wie Westeuropa ist. Dort sollen acht territoriale Produktionskomplexe entstehen. Zu ihnen werden viele Industriebetriebe verschiedener Wirtschaftszweige gehören, die sibirische Rohstoffe verarbeiten.

Die wirtschaftliche Erschließung der BAM-Region wird drei- bis viermal mehr kosten als die Errichtung der Eisenbahnlinie selbst. Die Kosten gehen in die Milliarden Rubel. Die Schaffung der territorialen Produktionskomplexe (TPK) ist ein langfristiges Programm. Wenn die ersten Züge schon Anfang der achtziger Jahre über die BAM rollen sollen,“ so wird die Bildung der Produktionskomplexe erst im 21. Jahrhundert abgeschlossen. Deshalb wird die BAM auch der „Weg in das 21. Jahrhundert“ genannt.

Bereits heute kann der künftige Anteil der BAM-Region am sowjetischen Export von Bodenschätzen ermessen werden. Bei Eisenerz werden es 10 Prozent, bei Kohle 18,5 Prozent, bei Holz 24,5 Prozent, bei Schnittholz 6,5 Prozent, bei Zellstoff 45,5 Prozent, bei Asbest 6,4 Prozent sein.

Die Erschließung des Kohlenvorkommens Nerjungri gilt als ein Beispiel der internationalen ökonomischen Zusammenarbeit Dort lagern fast 500 Millionen Tonnen Kohle, darunter 350 Millionen Tonnen Kokskohle. Für die Erschließung dieses Vorkommens gewährten japanische Firmen einen Kredit von 450 Millionen Dollar. Uber diesen Kredit wird Japan seinen Bedarf an Kokskohle decken. Außerdem will es 20 Millionen Kubikmeter Holz und Holzprodukte übernehmen.

An der BAM gibt es eine Regel, die zum Gesetz erhoben wurde: Es darf kein Baum zuviel gefällt werden. Vorgefertigte Häuser werden von weither antransportiert, trotz der hohen Kosten. Dennoch ist es auch hier unmöglich, wenn es sich nicht gerade um ein eingeplantes Reservat handelt, die Natur unberührt zu erhalten. Um so weniger, da sie ungeheuer verwundbar ist: Um einen Wald großzuziehen, werden 150 bis 200 Jahre benötigt, und auf Berghängen ist sogar das unmöglich.

Sibiriens Natur ist nicht nur verwundbar, sondern auch widerspenstig. Ein beträchtlicher Teil der BAM-Trasse verläuft durch die Zone des ewigen Bodenfrostes, überquert Sümpfe, größere und kleinere Flüsse und Bergketten. Die Gesamtlänge des Tunnels durch die Berge beträgt 24 Kilometer. Das Temperaturgefälle von hundert Grad (von +40 bis -60 Grad), an das sich Menschen aus milderen Gegenden nur schwer gewöhnen, macht bestimmte Erscheinungen der Natur besonders gefährlich. In Berggegenden sind Lawinen, Erdrutsche und Muren keine Seltenheit. Bei Hochwasser steigt der Wasserstand in den Flüssen bis auf 17 Meter an. „Aufeis“ -blitzschnell festfrierende Salvenauswürfe des unterirdischen Wassers -bewegt sich wie ein Panzer vorwärts, alles niederwalzend, was im Wege steht.

Das alles kann jede Bauanlage ruinieren. Die Seismologen warnen, daß im BAM-Gebiet jährlich an die 1500 Erdbeben registriert werden, die die Zerstörung nicht erdbebensicherer Bauten zur Folge haben können. In besonders gefährlichen Zonen kommt es einmal in 15 bis 20 Jahren zu Erdbeben der Stärke 8. Es hat auch schon katastrophale Erdbeben mit Stärke 9, 11 und 12 gegeben, die zu Bergrutschen und zum Verschwinden oder Entstehen größerer Seen geführt haben.

Die Wissenschafter müssen daher festlegen, was und wo gebaut werden kann und welche Stellen man am besten umgeht. Sowohl im erdbebensicheren Bauen als auch im Bauen auf ewigem Frostboden wurden in der UdSSR umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Spezielle Schutzmaßnahmen und Baunormen sind vorgesehen; ein engmaschiges Netz verschiedener Kontrolldienste wird eingerichtet. In Talkesseln, wo die natürliche Belüftung im Winter begrenzt ist, dürfen nur umweltfreundliche Betriebe gebaut werden. Lediglich unentbehrliche luftverschmutzende Betriebe sollen, mit modernen Reinigungsanlagen versehen, auf den naheliegenden Bergen stationiert werden, auf denen es keine Luftstockungen gibt.

Ein schwieriges Problem stellt die Lebensmittelversorgung in der BAM-Zone dar. Bebaubarer Boden ist nur in beschränktem Umfang vorhanden. In verschiedenen Gegenden ist der Boden äußerst arm an mineralischen Substanzen, während in Erz-bergbaurevieren die Ablagerung von Spurenelementen in Pflanzen und tierischen Erzeugnissen verhindert werden muß. Die BAM-Zone kann sich nur zu 54 Prozent mit Gemüse und zu 20 Prozent mit Molkereiprodukten selbständig versorgen. Deshalb wird nach Möglichkeiten gesucht, im Südteil Sibirens und des Fernen Ostens geeignete Ländereien urbar zu machen.

Auch an den Schutz der Fischbestände ist gedacht. Der Holzschlag an den bewirtschafteten Gewässern ist verboten. Im Amur-Becken liefern vier Fischzuchtstatipnen jährlich etwa 100 Millionen Junglachse. In Zukunft ist der Bau einer großen Fischzuchtfabrik geplant, deren Jahresproduktion 60 Millionen Jungfische betragen soll.

Die Menschen wissen, daß man aus der Taiga-Schatzkammer vernünftig schöpfen muß. Viele Zuschriften der BAM-Erbauer zum Entwurf der neuen sowjetischen Verfassung enthielten Vorschläge, im Grundgesetz einen Artikel über die Pflicht der Bürger vorzusehen, die Natur zu schonen und deren Reichtümer zu schützen. Das wurde dann auch zum Inhalt des Artikels 67 der Verfassung der UdSSR.

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