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Zentralasien im Aufbruch

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Bedeutungsvoller als militärische Eroberungen sind oft die gewaltlosen, stillen, mit klugem Bedacht erfolgten Handlungen. Das Altaigebiet, ein Teil der chinesischen Provinz Sinkiang, gibt ein Beispiel.

Der Ende des Jahres 1954 abgeschlossene russisch-chinesische Vertrag, der die Freigabe der Provinz Sinkiang durch Rußland enthält, ist ein ähnliches Ereignis wie die zwischen Rußland und China vereinbarte Rücknahme der russischen Besatzungstruppen aus Port Arthur, dem bisherigen schwerbefestigten Kriegshafen Rußlands im Fernen Osten. Alle russisch-chinesischen Produktionsgesellschaften in Sinkiang sind nach dem neuen Vertrag überall aus bisher russischen herrschenden Stellungen zugunsten Chinas in Hilfsstellungen verwandelt worden; freilich nur auf dem Papier. Ausgenommen von der neuen Ordnung sind zu russischen Gunsten lediglich die zwei gemeinsamen Eisenbahnen; die neue Eisenbahn von Peking über die Mongolei (Ulan-Bator) nach Tinmin an der sibirischen Eisenbahn, und die Lan-Sin-Eisenbahn von Lanchow über Urumtschi nach Alma Ata (zwischen Balkasch-See und Sin-kianggrenze). Diese Eisenbahn hat in Sinkiang noch eine Abzweigung von Ulan-Ussu nach Sergiopol, wodurch die Produkte des Altaigebietes Anschluß an das Welteisenbahnnetz bekommen. Diese Tatsachen sind im Zusammenhang mit gewaltigenvolks-wir tschaft liehen Veränderungen zu werten, die im Altai und in Sinkiang von den Russen angebahnt worden sind.

Das mächtige Altaigebirge grenzt an Rußland und die Außenmongolei, die übrigens auch chinesisch ist und nur durch Rußland ein selbständiger Staat wurde. Die natürlichen Bedingungen des Altai sind,gut: südöstlich und östlich rauschende Nadelwälder, im Süden und Norden weite, fruchtbare Weideplätze, die nach russischen Forschern benannt sind. Diese Weideplätze sind von über tausend Flußläufen durchzogen und von über 3000 Seen und Sümpfen unterbrochen. Die Bevölkerung war zumeist mongolisch wie in der angrenzenden Mongolei und von buddhistischer Religion. Am Rande dieser Weideplätze breiten sich fruchtbare Ländereien. Heute bestehen hier über 1300 staatliche Kolchosen, von denen schon mehr als zweihundert mit modernen Maschinen und Traktoren arbeiten. Zudem sind in diesem Raum, über hundert staatliche landwirtschaftliche Versuchsanstalten verteilt. Die Anbaufläche im Altai ist allein in den letzten drei Jahren um 170 Prozent vergrößert worden. Diese und die nachstehend gebrachten Zahlenangaben sind von dem Verfasser, der manche Gebiete Zentralasiens aus dem Erleben kennt, chinesischen Zeitungen, namentlich der „Jen-min-je-bao“ entnommen. Die Ziffern sind globale, wahrscheinlich nach, oben abgerundete Bezeichnungen. Aber selbst wenn sie, was nicht anzunehmen ist, zu 50 Prozent übertrieben wären, würden sie ernstzunehmende Tatsachen vorstellen, die leicht zu nehmen irreführender Leichtsinn wäre.

Im Altai hat die im Frühjahr 1953 einsetzende planmäßige Bearbeitung des riesigen Oedlandes und auch mancher Weideflächen 2,300.000 Hektar neues Ackerland geschaffen. Auf diesen kultivierten Flächen wächst bereits Weizen, dessen widerstandsfähige Sorten aus Sibirien stammen. Für dieses Gebiet werden 26.000 Landarbeiter verzeichnet. Viele von ihnen sind unfrei. Die Leiter und Fachleute waren zumeist Ausländer und stammen aus Groß-Rußland und den Satellitenstaaten. Der Staat liefert alles Notwendige an Maschinen. Er erhält dafür aus den Kolchosen das Getreide. Auf den fruchtbaren Weideplätzen allein sollen im Norden und Süden des Altai im letzten Jahr 20- bis 30.000 Hektar Neuland geschaffen worden sein. Es heißt, daß die Fachleute — auch sie meist Unfreie — vom Staat beliebig von einer Kolchose zur anderen verschoben werden. Die Arbeit läuft auf hohen Touren. Für ihre Ergebnisse spielt die Statistik eine große Rolle. Es wird zum Beispiel berichtet und belobt, daß der Russe Nikolaus L a t z e k mit seiner Gruppe täglich 18 Hektar Neuland schaffte. An seinen Traktoren weht die rote Fahne.

Prachtvolle Bilder bot der Sommer im Altai 1954. Man sah auf den Feldern die verschiedensten Getreidearten, Weizen an erster Stelle. Sehr gute Erfolge brachte der Maisanbau. Es werden aber auch Malven, Hanf, Sesam, Süßholz und Tabak angebaut. Früher wuchsen im Altai keine Aepfel; jetzt züchten schon hunderte Kolchosen in ihren Gärten trotz des rauhen Klimas verschiedene Sorten von Aepfeln, auch Pflaumen, Kirschen, Edelkastanien und selbst Wein.

Was im Altai und in anderen Teilen Sin-kiangs von der Landwirtschaft gilt, das gilt im gewissen Sinne auch für die Viehzucht. Man hat unter russischem Einfluß — die Viehzüchter, meist Mongolen, sind weit selbständiger als die Ackerbauern — neue Fleisch- und Milchkühe ge-züc tet. Das Hauptaugenmerk hat man aber der Schafzucht zugewendet und besonders auf den südlichen Weideplätzen des Altai ein hochwertiges Wollschaf gezüchtet. Es wiegt durchschnittlich bis 110 Pfund und liefert im Jahr bis zu 14 Pfund Wolle.

Auch von anderen Gebieten Sinkiangs werden große Kultivierungsmaßnahmen berichtet. Die Kultivierungstrupps am Himalaja arbeiten bis zu 4000 Meter hoch über dem Meeresspiegel unterhalb großer Urwälder, und sie arbeiten in den riesigen Steppen. Lange Waldstreifen werden zum Schutz' der Landwirtschaft angelegt gegen das Vordringen der Wüste oder zur Eindämmung der Flüsse und Kanäle. Die Zeitung „Jen-min-je-bao“ verzeichnet, daß in den Bezirken Manaß und Hami im vorigen Jahr 11.000 Morgen mit Bäumen bepflanzt worden seien und in Aksu seien aus demselben Grund 7900 Morgen Wald angepflanzt worden. Unter den angepflanzten Bäumen werden Sanddattel, Pfirsiche und Aprikosen genannt.

Zentralasien ist in jeder Hinsicht im Aufbruch begriffen, auch ohne den Kommunismus. Es ist sicher ein Land der Zukunft.

Es wird wenig beachtet, daß das eigentliche volkreiche China nur etwas mehr als ein Fünftel des Landes ausmacht. Nordwest- und Nordostchina mit Mongolei und Tibet besitzen eine Fläche von fast acht Millionen Quadratkilometer, so groß wie Südamerika oder das asiatische Rußland, an Bodenschätzen reicher und mit vorteilhafterem Klima als die beiden Vergleichspartner.

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