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Vom Potemkinschen zurck zum Bauerndorf

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Noch einige Monate vor seinem Tode, auf dem 19. Parteikongreß, stellte Stalin triumphierend fest, daß durch die Kollektivisie-rung der Landwirtschaft die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, vor allem mit Getreide, endgültig und für immer gesichert sei.

Seitdem ist noch kein Jahr vergangen, und es wird öffentlich zugegeben, daß nicht nur Schwierigkeiten in der Versorgung mit Lebensmitteln eingetreten sind, sondern daß die ganze landwirtschaftliche Produktion in einer Krise steckt, die nur durch vollkommene Umkehr in der Politik den Bauern gegenüber überwunden werden kann. Als Grund dieser Krise wird angegeben: Die Sowjetregierung sei zum Ausbau der Schwerindustrie gezwungen gewesen und habe daher der Konsummittelindustrie und der Landwirtschaft nicht die nötige Aufmerksamkeit widmen können.

Nun, das ist auch mit ein Grund, doch bei weitem nicht der einzige und wichtigste. Seit dem Ende des Krieges wurden das Verhältnis zum Bauern und die Probleme der Landwirtschaft immer wieder in der obersten Parteiführung diskutiert. Seit Stalin an der Macht war, leitete die Bauernpolitik der Parteisekretär Andrejew. Während des Krieges duldete man es, daß die Privatwirtschaft der Bauern sich über den gesetzlichen Rahmen hinaus ausdehnte — belieferte doch die Privatwirtschaft den so notwendigen freien Markt, der weite Gebiete Rußlands vor dem Hunger rettete. Nach dem Kriege versuchte nun Andrejew, die Privatwirtschaft der Bauern wieder einzudämmen. Er ließ die Steuern und Zwangsablieferungen gegenüber dem Privatbesitz der Bauern rigoroser eintreiben und arbeitete außerdem einen Plan der Weiterentwicklung der Kolchose aus. Die Kolchosen hatten sich so ziemlich chaotisch gebildet. Es gab Kolchosen, die zehn, zwanzig und mehr Bauernhöfe, daneben aber auch solche, die nur drei oder vier Bauernhöfe umfaßten. In den meisten Dörfern gab es mehrere Kolchosen. Vor der Zusammenlegung soll es in der Sowjetunion 98.000 Kolchosen gegeben haben. Andrejew leitete nun eine Aktion ein, um die kleineren Kolchosen mit den größeren zu vereinigen. Auf diese Art ergab sich eine Reduzierung von 98.000 auf 60.000 Kolchosen. Diese Vergrößerung der Kolchosen sollte die Mechanisierung der Landwirtschaft fördern, „die Bewirtschaftung modernisieren“. In Wirklichkeit hätte dies die erste Etappe der vollständigen Verstaatlichung der Kolchose bedeutet. Aehnliche Ziele hatte der Plan der sogenannten „Agrarstädte“. In den neuen großen Kolchosen sollten die Bauern ihre alten Häuser und Höfe verlassen. Zweckmäßig im Zentrum der Kolchose angelegt, sollte an Stelle des Dorfes eine städtische Siedlung treten: mehrstöckige Häuser mit städtischem Komfort. Auf dem Papier sah der Plan sehr klug durchdacht aus. Andrejew wußte zwar, daß es bei dieser letzten Enteignung des Privatbesitzes schwere Kämpfe geben würde, hoffte jedoch, daß der Bauer, besonders der jüngere, für eine städtische Wohnung gerne seinen Besitz an Haus und Hof aufgeben werde. Damit würde sich der „Bauer“ weiter dem erwünschten Typ des Industriearbeiters nähern. Das Areal des früheren Dorfes sollte die Anbaufläche vergrößern. Offiziell sollten die Privatäcker und Güter den Bauern verbleiben, doch sollten sie zusammengelegt werden — dann könnten sie „rationeller bewirtschaftet“ werden. Ebenso sollten die Stallungen für das Vieh, das im Privatbesitz der Bauern verblieben ist, zusammengelegt werden. Mit einem Wort, unter dem rechtlichen Vorwand der Aufrechterhaltung des Privatbesitzes der Bauern sollte dieser Besitz langsam liquidiert werden.

Da aber verstummte mit einem Male die ganze Propaganda um den Plan. Parteisekretär Andrejew, einer der ältesten Paladine Stalins, der beinahe ein Vierteljahrhundert die Bauernpolitik der Partei geleitet hatte, war plötzlich verschwunden. Auf dem 19. Parteikongreß wurde sein Name nicht einmal genannt.

Seine Politik war allerdings schon früher einmal, zu Stalins Lebzeiten, heftigen Angriffen ausgesetzt gewesen. Damals tauchte erstmals die bäuerliche Forderung auf, die staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen zu liquidieren und die Maschinen in den Besitz der vergrößerten Kolchose zu überführen. Namhafte sowjetische Volkswirtschafter und Fachleute traten für diese Forderung ein und nur ein persönliches Eingreifen Stalins verhinderte eine weitergehende öffentliche Diskussion. Am meisten wurde Andrejew aber wegen seiner „Agrarstädte“ angegriffen. Diese Reform drohte chaotische Zustände in den Kolchosen zu schaffen. Ganze Dörfer wurden in Baracken ausgesiedelt und lagen leer und vereinsamt da. Um die neuen Agrarstädte zu bauen, fehlte es jedoch an' Geld, Material und Arbeitskräften. Nicht einmal zum Abtragen der alten Häuser, geschweige denn zur Reaktivierung des Bodens, auf dem sie standen, reichte es. Schließlich hätten, um über 120 Millionen Menschen aus ihren Holzhütten und Häusern in steinerne Mietskasernen verpflanzen zu können, vom Staate hunderte Milliarden Rubel investiert werden müssen, kurz, der Plan stellte sich als tolles Phantasiegebilde heraus.

Stalin hatte übrigens die Mentalität seiner Bauern ganz falsch eingeschätzt. Die jahrzehntelange kommunistische Propaganda hatte merkwürdige Resultate erreicht. Der Bauer hatte bis vor kurzem unter den gegenwärtigen Umständen kein allzu großes Interesse an der Erhöhung der Erträgnisse der Landwirtschaft. Da die Ablieferungspreise so niedrig waren, interessierte ihn die ganze schöne „Produktion“ nur so weit, als die Kolchose ihn und seine Familie ernährte — die Ueberschüsse verschlang ja „der Staat“. Jetzt aber ist man glücklich so weit, dem Bauern gute Worte und wirtschaftlichen Anreiz geben zu müssen, damit er seine Privatwirtschaft ausbeutet! Die Bauern erhalten neuerdings Steuerreduktion, billige Kredite zur Anschaffung der Kuh. Wer sich jetzt eine Kuh anschafft, der ist für eine Reihe von Jahren von der Zwangsablieferung von Fleisch und Milch an den Staat befreit. Wer schon eine Kuh besitzt, dem wird die Menge der abzuliefernden Produkte drastisch herabgesetzt. Die Hoffnung wird jetzt auf die Produktionssteigerung des bäuerlichen Privatbesitzes gesetzt. Nicht umsonst. Es hat sich gezeigt, daß in den Kolchosen viele Potcmkinsche Dörfer steckten. Tausende Tonnen von Getreide und Kartoffeln wurden bei der Ernte in den Boden gestampft, um Schnelligkeitsrekorde zu erzielen. Am Gemüsebau verlor die Kolchose weitgehend das Interesse. Der Staat konnte nicht einmal die Pflichtablieferung ganz übernehmen, da ihm die Einrichtungen zur Lagerung fehlten. Nicht weniger schlimm steht es mit dem Vieh. Es stellte sich jetzt heraus, daß die Sowjetunion 3,5 Millionen Stück Großvieh weniger hat als 1939, dem letzten Friedensjahr, und 8,9 Millionen weniger als 1921, dem Jahr vor Beginn der Kollektivisierung der Landwirtschaft.

Dies alles soll jetzt durch weitgehende „Reprivatisierung“ der Landwirtschaft geändert werden.

Der Sieg, den der russische Bauer damit über den Staat errungen hat, ist kaum zu überschätzen. Besonders folgenschwer für den Sowjetstaat ist die Erhöhung der offiziellen Preise für landwirtschaftliche Produkte.

Seit 1917 hatte das Sowjetsystem auf der wirtschaftlichen Bevorzugung der Stadt und der Industrie gegenüber dem Dorfe und der Landwirtschaft beruht. Erreicht wurde das durch die berüchtigte „Schere“. So nannte einst Trotzki das Auseinanderklaffen der Preise auf industrielle und landwirtschaftliche Produkte. Der Bauer mußte bis jetzt — um nur ein Beispiel zu nennen — für einen Meter Stoff das Vielfache an Getreide und Lebensmitteln bezahlen als etwa im Jahre 1913. Auf diese Weise wurde auch die Industrialisierung vorwiegend auf Kosten des Bauern durchgeführt. Jetzt wird diese „Schere“ zusammengedrückt. Die Preise für die Zwangsablieferungen werden teilweise um 150 Prozent erhöht. Durch die Förderung seiner Privatwirtschaft wird der Eigentumsinstinkt des Bauern neu gestärkt und der Bauer wird unabhängiger wie vom Staat so auch von der Kolchose. Man kann sicher sein, daß er noch weitere Forderungen stellen wird.

Die wirtschaftliche und damit politische Lage des russischen Bauern verändert sich tiefgreifend. Seit 1917 ist außer der Proklamierung der neuen Wirtschaftspolitik 1922 durch Lenin nichts so Entscheidendes geschehen. Zweifellos steht man in der Sowjetunion noch vor weiteren, wichtigen Veränderungen.

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