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Sowjetisches Agrardilemma

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Die sowjetische Landwirtschaft ist ein Sorgenkind der Machthaber im Kreml nicht nur in materieller Hinsicht. Sie war — man erinnert sich heutzutage kaum noch — die fortschrittlichste der Welt, und es wimmelte von Erfolgsnachrichten, insbesondere dank des heute in Vergessenheit geratenen Naturzaüberers Ly-senko. Dann erfuhr eines Tages die erstaunte Welt — es war im Jahre 1962 —, daß die Sowjetunion, die einmal versucht hatte, eine von der großen Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre erschütterte kapitalistische Gesellschaft durch Dumpingverkäufe von Weizen zu Grabe zu tragen, nunmehr selbst auf dem Weltmarkt als Weizenkäufer auftreten muß, um eine Hungersnot zu lindern.Obwohl die Sowchose- und Kolchosewirtschaft als Betriebsform versagt haben, hält man aus politischen Gründen weiterhin daran fest: die Kleinproduktion von Waren erzeuge spontan den Kapitalismus, die gemeinsame Arbeit in der Landwirtschaft erziehe dagegen die Bauern zu einem sozialistischen, später zu einem kommunistischen Bewußtsein um...

Nun wird jedoch offen zugegeben, daß man mit dieser „Erziehung zum neuen Menschen“ keine besonderen Fortschritte gemacht hat. Und dies, obwohl die Kollektivierung in der Sowjetunion seit mehr als 35 Jahren,in den westlichen, im letzten Weltkrieg eroberten Gebieten immerhin seit zwei Jahrzehnten beendet worden ist. Das Bewußtsein der Kolchosebauern — stellte unumwunden vor kurzem der Erste Parteisekretär der SSR Moldau, Bopjul, im theoretischen Organ „Kommundst Molda-wij“ fest — bleibe erheblich hinter dem Bewußtsein der Arbeiterklasse zurück. Die Bauern verstünden schwieriger als die Arbeiter — heißt es in der Partedsprache —, daß die Produktionsmittel des ganzen Volkes auch ihnen wie allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft, gehören. Sie hätten noch die Psychologie des Privatbesitzers.

Ea kann eigentlich nicht wundem, daß die Bauern wenig Verständnis für den leeren Begriff des „Eigentums des ganzen Volkes“ haben und daß sie naturgemäß einen gewissen Widerstand leisteten und noch leisten — gewiß nicht im aktiven Sinn, sondern in der Form einer Art von Trägheit und Umgehung der an sie gestellten Forderungen —, denn sie wurden von der Kollektivierung schwerer als die Arbeiter von der Verstaatlichung der Fabriken betroffen. Während die Arbeiter den Privatpatron gegen den Staat eintauschten (wobei sie allerdings die Möglichkeit eines Arbeitskampfes zur Durchsetzung ihrer Anliegen verloren), wurden die Bauern ihres Grund und Bodens oder der Hoffnung beraubt, zum Gründbesitz durch Fleiß zu gelangen. Die schlechte Wirtschaft der Kolchose (und die Lage ist noch katastrophaler in den Sowchosen) trägt keineswegs 'zu einer kommunistischen Erziehung, zur Umwandlung in- einen „neuen Menschen“, zur Gewinnung der Bauern für den Kommunismus bei, sondern eher zum Gegenteil. Eine negative Rolle spielen dabei das niedrige Niveau der Arbeitsorganisationen, die primitive und oft verkehrt angewandte Agrotechnik, die mangelnden oder mangelhaften landwirtschaftlichen Geräte. Merkwürdigerweise bleibt es noch ein Desiderat, was eigentlich eine Selbstverständlichkeit schon längst sein sollte: daß das kommunistische Regime „dem Kolchosbauern die für die Arbeit in der Produktion notwendigen Bedingungen schafft“, wie sich Parteisekretär Bodjul wörtlich ausdrückte. Man solle entschieden die Trennung von kommunistischer Erziehung auf dem Lande und Entwicklung der Kolchose- und Sowchoseproduktion beseitigen. Den Hintergrund dieser Feststellung bildet die Hoffnung, daß eine erhebliche Steigerung der Arbeitsproduktivität den Gegensatz zwischen Bauerntum und Gesellschaftssystem mildern würde. Es ist jedoch nicht ersichtlich, wie der Teufelskreis-gebrochen werden soll.

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