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Die „neuen Leistungsformen“

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Wichtige Fragen jedoch, wie etwa die, ob die Marktlage, ob Angebot und Nachfrage wirklich Einfluß auf die betrieblichen Entscheidungen ausüben können, sind in der DDR noch nicht zu Ende gedacht — oder sie werden von der Partei aus ideologischer Vorsicht bewußt verschleiert. Eine solche Furcht vor der eigenen Courage hemmt jedoch heute schon sehr viel weniger die Wirtschaftsreformen in der Tschecho-slowakei. Dort hatte Eugen Loebl, Altkommunist, einstiger Handelsminister und Rehabilitierter des Slansfcy-Prozesses, im Herbst 1963 das große ökonomische Tabu durchbrochen: Es gebe überhaupt keine spezifischen ökonomischen Gesetze des Sozialismus, schrieb er in„ Kul-turny Zivot“. Heftig kritisiert wurde Loebl damals noch von dem Mann, der heute der intellektuelle Motor dessen ist, was man in Prag die „neuen Leitungsformen“ der Wirtschaft nennt: der Tito-Schüler Professor Ota Sik. Das Programm, das unter seiner Leitung nach monatelangen Diskussionen entworfen wurde, ist sehr offen: „Die Betriebe sollen selber konkret über ihre Produkte entscheiden, über die Typen, über die Quantität, die Technologie, die Kosten. Sie werden in dieser Entwicklung gelenkt von der konkreten Entwicklung der Nachfrage auf unserem Markt und auf den Auslandsmärkten.“

In Polen begann man mit derlei Experimenten schon vor acht Jahren — freilich unter viel schlechteren technisch-industriellen Voraussetzungen als sie heute in der DDR oder in der Tschechoslowakei bestehen. Als erste setzten die Polen 1956/57 vorsichtig einen Fuß ^auf den jugoslawischen Weg und machten sich damit im ganzen Block unbeliebt. Einige Jahre lang machten die Professoren Lange und Bobrowski mit ihren Programmen von sich reden. Die Praxis kam nie über das Experimentierstadium hinaus.

Der jährliche Bevölkerungszuwachs von nahezu 400.000 Menschen und die schwächere (auch jüngere) industrielle Basis drängen in Polen zu einem Investitionstempo, das fast über die Kraft des Landes geht. Es verleitet die Regierung immer wieder, ihr Heil mehr in der Plandisziplin als in der Schaffung marktwirtschaftlicher Anreize zu suchen.

Freilich besteht in Polen gegenüber anderen Blockländern eine wichtige Nuance: Ein Drittel des Nationaleinkommens in Polen wird privat erzeugt — von den Bauern, auf deren Kollektivierung Gomulka, endgültig verzichtet hat. Diese „revisionistische“ Besonderheit, die außer Polen nur noch Jugoslawien aufweist, belastet freilich den verstaatlichten Teil der Wirtschaft Polens unentwegt mit Disproportionen, denen in einem solchen „Mischsystem“ schwer beizukommen ist.

Umgekehrt ist es in Ungarn dem Parteichef Käddr gelungen, durch ein neuartiges, reformistisches Agrar-modell, das sogenannte Nadudvär-system, den Bauern gerade die Kollektivierung schmackhaft zu machen.

Das ungarische Dorf Nadudvär bei Debreczen hatte sich mit seiner „Erfindung“ zehn Jahre lang sehr einträglich die Unzuträglichkeiten der klassischen Kolchoswirtschaft vom Hals gehalten, ohne ihr Prinzip zu verleugnen. Die erfolgreiche Ausweichlösung wurde von der Partei 1963 zum Vorbild für alle erkoren und funktioniert seitdem mit sichtlichem Erfolg: Jede Familie erhält vom gemeinsamen Kolchosland ein festes Stück zu eigener ausschließlicher Bearbeitung zugewiesen. Sie wird nicht nach „Arbeitseinheiten', wie dies auf Kolchosen sonst üblich ist, entlohnt, sondern zusätzlich mit einem Anteil vom Ertrag „ihres“ Stückes Boden. Soweit dieser Gewinnanteil in Naturalien ausgezahlt wird, zum Beispiel in Futtergetreide, kommt er dem privaten Hofland der Bauern zugute. Auf diesem aber werden heute — trotz Vollkollektivierung — 60 Prozent der ungarischen Milchprodukte und 46 Prozent des Fleisches privat erzeugt!

Die obigen Zahlen, die im Westen wenig bekannt sind, liegen in ganz Osteuropa etwa in der angegebenen Höhe: auch in der Sowjetunion, in welcher das private Hofland seit langem vor dem schlimmsten Mangel schützt. Nach einer Rekordernte halbierte Chruschtschow das private Hofland 1955 derart, daß dem einzelnen Kolchosbauern etwa in der Ukraine kaum mehr als zwei Zehntel Hektar blieben; das wird dem gestürzten Parteichef noch heute seinen Sünden zugerechnet. Die Folge der Reduktion des privaten Hoflandes war, daß zum Beispiel allein in den ersten neun Monaten des Jahres 1964 die Fleischproduktion in der Ukraine um 26 Prozent sank.

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