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Luft fur den Bauern!

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Die Reorganisation der Volkswirtschaft in der Sowjetunion ist in ein entscheidendes Stadium getreten. Nachdem die oberste Verwaltung der Industrie umgestaltet worden ist, ist jetzt die Landwirtschaft an der Reihe. Von welch einschneidender Bedeutung die Auflösung der staatlichen Maschinen- und Traktorenstationen (MTS) und der Verkauf ihres Inventars an die bäuerlichen Kolchosen sind, zeigt schon die Tatsache, daß der Vorgang selbst anders verläuft als bei der Reorganisation der Industrie. Damals wurde die Auflösung der zentralen Industrieministerien einfachhin von oben angeordnet, während jetzt zwischen der programmatischen Rede Chruschtschows in Minsk und der gesetzlichen Verabschiedung der angekündigten Reform im Obersten Sowjet eine Periode eingeschaltet wurde, während der im ganzen Lande, in Parteiversammlungen wie auch in den Versammlungen der Kolchosen, eine breite Diskussion über die beabsichtigte Maßnahme durchgeführt wird.

Als nach 1928 mit ungeheurem Terror die bäuerlichen Produktionsgenossenschaften oder die Kolchosen errichtet wurden, da stand der Sowjetstaat einer durchweg oppositionellen Bauernschaft gegenüber. Auch war man sich im Kreml klar darüber, insbesondere, als man sich genötigt sah, den Bauern doch gewisse Zugeständnisse zu machen, und sich für die heutige Form der Genossenschaft entschied, daß hier für den Sowjetstaat ein gefährliches Experiment vor sich ging. Schon die einzelne Kolchose schloß eine Reihe von bisher nur auf ihren individuellen Vorteil bedachten Bauern zusammen. Darüber hinaus hatten sich die einzelnen Kolchosen zu regionalen und noch weiteren Verbänden zusammenzuschließen. Wenn bisher, in der Zarenzeit wie zur Frühzeit des bolschewistischen Regimes, der russische Bauer trotz seiner zahlenmäßigen Ueberlegenheit dem Staate gegenüber machtlos war, so nur darum, weil er sich nicht über das Dorf hinaus zu organisieren verstanden hatte. Die Kolchosenverfassung hatte nun zwangsweise diese Organisation geschaffen. Verlor der Staat die Kontrolle über die Organisation, so konnte der Bauer für ihn zu einer Macht werden, welche die Diktatur sprengte.

Der Staat mußte sich darum wirksame Mittel beschaffen, um das Dorf wirtschaftlich und politisch zu kontrollieren und die einzelne Kolchose in ständiger wirtschaftlicher Abhängigkeit zu halten. Eine dieser Methoden war die Schaffung gewaltiger Staatsdomänen, sogenannter Getreidefabriken auf bisher unaufgebrochenem Steppenboden, die den Staat wenigstens teilweise von den Getreidelieferungen des Bauern unabhängig machen sollten. Denn die wirksamste Waffe des Bauern war der passive Widerstand, die Einstellung der Produktion, die dann den Staat zum Nachgeben zwang. Man meinte zuerst, die riesigen Sowchosen, wie die Staatsdomänen genannt werden, bearbeitet durch Lohnarbeiter wie in den Fabriken, würden die zukünftige Form der sowjetischen Landwirtschaft sein. Doch es kam anders. Die Sowchosen mußten verkleinert und-ihre Entlohnungsverhältnisse mußten immer mehr jenen der Kolchosen angenähert werden. Die heute noch bestehenden Sowchosen sind nur noch landwirtschaftliche Musterbetriebe, die bei der Versorgung des Landes mit Lebensmitteln keine ausschlaggebende Rolle mehr spielen.

Wirkungsvoller dagegen war die Organisation der Maschinen- u n d Tra kt o r e n Stationen. Durch dieses System hielt der Kreml den Bauern in seiner Gewalt. Denn es wurde von vornherein festgelegt, daß die Kolchose keine eigenen großen landwirtschaftlichen Maschinen haben dürfe. Dafür wurden über das ganze Land staatliche Unternehmen eingerichtet, die solche Maschinen an die Kolchosen entweder ausliehen oder mit eigenem Personal gewisse landwirtschaftliche Arbeiten durchführten. Schon damit gerieten die Kolchosen unter die wirtschaftliche Kontrolle und Abhängigkeit des Staates. Dazu kamen noch Versuchslaboratorien und landwirtschaftliche Beratungsstellen. In gewissen Zweigen des Finanzverkehres waren die Traktorenstationen die Kreditgeber der Kolchosen. Endlich wurden den Maschinen- und Traktorenstationen auch politische Abteilungen zugeteilt, Filialen der politischen Polizei, die auf diese Weise das Dorf beherrschte.

Noch unter Stalin wollte man die ganze Landwirtschaft weitgehend reorganisieren. Man darf nicht vergessen, daß die landwirtschaftlichen Kollektivwirtschaften in der Zeit von 1928 bis 1932 ziemlich chaotisch entstanden sind. In dem einen Dorf, vielleicht in einem großen, entstand unter Umständen nur eine einzige Kolchose, während manchmal in einem kleineren Dorf sich mehrere Genossenschaften bildeten. Da bestand eine Kolchose mit vierzig bis fünfzig Bauernhöfen und ihrem ehemaligen Ackerland, dort wieder eine solche mit nur drei bis vier Höfen. Dadurch wurde die Rentabilität sowohl der einzelnen Kolchosen als auch der gesamten Landwirtschaft reduziert. Man faßte also den Plan, durch Fusion rationeller zu gestalten. Dazu bestand auch der Plan, durch die Schaffung sogenannter Agrostädte die Lebensverhältnisse auf dem Lande denen in der Stadt anzugleichen. In den neuen vergrößerten Kolchosen sollten neue Siedlungen städtischer Art geschaffen werden. Natürlich war dieser Plan zu phantastisch, um wirklich in Angriff genommen zu werden. Denn das hätte den Bau neuer Städte für etwa 80 bis 100 Millionen Menschen bedingt, eine Aufgabe, die auch in einem halben Jahrhundert nicht zu bewältigen wäre.

Die Vergrößerung der Kolchosen jedoch fand weitgehend statt. Die kleinen Kolchosen benutzten gerne die Gelegenheit, sich mit großen und leistungsfähigen zu fusionieren. Damit war die wichtigste Voraussetzung zur Anschaffung eigener Traktoren und Großmaschinen durch die Kolchosen gegeben. In der offiziellen Diskussion werden eine Reihe von wirtschaftlichen Gründen für diese Reform angeführt. So wird darauf hingewiesen, daß es schließlich und endlich schon Kolchosen gebe, die praktisch so groß sind, daß eine MTS sie allein bedienen muß, so daß nicht mehr die Kolchose von der MTS, sondern umgekehrt die MTS von der Kolchose abhängig ist. Sodann hatten sich in den vorgeschriebenen Reservefonds Kapitalien angehäuft, die auf 100 Milliarden Rubel geschätzt werden. Diese Gelder wie auch die zum Teil großen Ersparnisse der Kolchosenmitglieder suchten nach einer Anlage. Es liegt auf der Hand, daß der Staat diesen Geldüberhang sich selbst zuführte. Als scheinbares Entgelt überläßt der Staat den Kolchosen die MTS, von deren Unterhalt und Erneuerung er gleichzeitig befreit wird.

Soviel auch über die Zweckmäßigkeit der vorgesehenen Reform der Landwirtschaft gesprochen wird, so handelt es sich dabei doch nur um einen Teil jener Reorganisation des Sowjetstaates, die immer dringender wird, wenn nicht eine tiefer greifende Krise ausbrechen soll. Denn wir dürfen nie vergessen, daß ursprünglich die Diktatur des Proletariates nur bis zur Vernichtung der sogenannten ausbeuterischen Klassen gedacht war. Heute, da offiziell die Bevölkerung nur aus Werktätigen besteht, ist es schwer, zu begründen, wieso noch die Diktatur einer einzigen Partei, die Diktatur des Proletariates — das offiziell gar kein solches mehr ist, weil es Mitbesitzer der gesamten Industrie ist —, beibehalten wird, nachdem die sozialistische Gesellschaftsund Wirtschaftsordnung verwirklicht ist. Die Begründung .welche für diese Anomalie gegeben wird, ist verschiedenartig. Zutiefst ist jedoch der Widerstand gegen eine geistige und politische Auflockerung in der altrussischen Angst begründet, daß jede politische Reform zu einer allgemeinen Auflösung führen könnte. So bleibt unter den heutigen Verhältnissen kein anderer Weg, um den veränderten Verhältnissen in der Sowjetunion Rechnung zu tragen, als der Weg eines sehr langsamen Ausbaues einer Art von Wirtschaftsdemokratie. Damit will man ja gleichzeitig drei Ziele erreichen: 1. Dem Bürger den Schein vermitteln, daß sein Wille trotz allem mitbestimmend sei, wenigstens im wichtigsten Teil seines Lebens, im Beruf; 2. die Produktionskräfte stärker entfalten und 3. sehr vorsichtig einen Weg finden, um vom starren Staatskapitalismus zu Formen, die eher dem sozialistischen Ideal gleichen, zu gelangen.

Am 22. Jänner 1958 verkündete der Erste Parteisekretär Chruschtschow in Minsk den Beginn der großen Kolchosenreform. Wenn auch langsam und vorsichtig, sollen weit mehr als 8000 MTS ihren Maschinenpark an 78.000 Kollektivwirtschaften verkaufen. Eine gewaltige Stärkung der sowjetischen Bauernschaft! Es ist verständlich, daß sich „konservative“ Stimmen melden, die darin beinahe den Untergang der ganzen sowjetischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung erblicken. Eben um diese konservative Opposition zum Verstummen zu bringen, versucht man, diese Reform unter gewaltigem Aufwand von Propaganda durchzusetzen. Doch wie bei jeder Schwenkung der sowjetischen Innenpolitik sind auch hier innerparteiliche Kämpfe unvermeidlich.

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