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Der Weg zurück

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Ein Fest aus Anlaß des Trienniums des polnischen Oktober wäre wahrlich fehl am Orte gewesen. In immer schnellerem Tempo sind die Hoffnungen verflogen, die damals die Polen, und nicht nur sie, an den Sturz der unmittelbaren Erben Bieruts und an die Entfernung des verhaßten Rokossowski geknüpft hatten!

Es schien zu schön, um wahr zu sein. Und dennoch hielt der neue Kurs einige Zeit das, was er versprach. Die Freiheit des gedruckten und noch mehr die des gesprochenen Wortes war für ein volksdemokratisches Land erstaunlich. Die geistigen Kontakte mit dem Westen wurden nicht behindert. Den Intellektuellen fiel sichtbar der erste Platz im Staate und in der Partei zu. Auf dem Lande vollzog sich eine regelrechte Flucht aus den Kolchosen, deren Zahl von rund 10.000 im Oktober 1956 auf 1368 an der Jahreswende sank. Besonders eindrucksam war die Harmonie zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt. Und kaum einer entsann sich des polnischen Sprichworts, daß den Wolf seine Natur in den Wald treibe. Nein, derlei friedliche Koexistenz von Katholizismus und Kommunismus war wider beider Natur. Ein marxistisch-leninistisches System konnte nicht auf die Dauer den Individualismus der Bauern und in der Stadt den der schnell wieder aufkommenden Handwerker, Gewerbetreibenden, Kleinindustriellen begünstigen. Vor allem mußten die Kirche und der atheistische, nur dem Irdischen verhaftete Materialismus in Zwist geraten. Doch noch ehe das gesęhah, wurde die große Säuberung im Schoß der PZPR unternommen. Die unbotsamen, der Gleichschaltung ihrer Ideen widerstrebenden Philosophen, Publizisten, Kritiker und Studenten wurden ihres Sprachrohrs „Po Prostu“ beraubt, die Rädelsführer aus der Partei ausgeschlossen. Die Zensur griff schärfer zu, wenigstens in dem, das die Tagesereignisse und vorab das Verhältnis zur UdSSR betraf. Im Laufe'des Jahres 195 8 vertilgte man die letzten Spuren „revisionistischer“ Häresien aus der Presse; die Bücherproduktion kam unter strengere Kontrolle. Alle diese Dinge gingen jedoch nur einen relativ kleinen Kreis von einigen zehntausend, und seien es hunderttausend, Menschen an.

Deutlichstes Symptom der geänderten Sachlage bildete indessen die aufsehenerregende Absetzung des Erziehungsministers Bienkowski, der einst zu den engsten Freunden und Getreuen Gomulkas gehört hatte, Verbindungsmann der PZPR zur Kirche gewesen war und sich sowohl bei der Hierarchie als bei der katholischen

Intelligenz sehr großen Ansehens erfreute. Hatte seinerzeit die Enthebung des Kulturministers Kuryluk den Bruch mit „Po Prostu“ und mit den unzufriedenen Literaten von der Art Hlaskos unterstrichen, so bezeugte jetzt die Verabschiedung des hochbegabten Bienkoswkis wenn nicht die Entschlossenheit, es auf einen Kulturkampf ankommen zu lassen, mindestens eine drohende Warnung an den polnischen Katholizismus. Nicht minder eindeutig ist die Wahl von Bienkowskis Nachfolger. An Stelle des feingebildeten, glänzenden Redners und Publizisten tritt ein gewesener Dorfschullehrer, dessen Bruder einer der Hauptorganisatoren der Gottlosenbewegung in Polen ist: der fünfundfünfzigjährige Waclaw Tulodziecki.

Zugleich mit diesem Wechsel im Kulturministerium geschah einer im Landwirtschaftsressort. Der bisherige Portefeuilleinhaber Edward Ochab ist allerdings nicht in Ungnade gefallen, sondern die Treppe hinauf — oder eher: zurück empor. Der neue Landwirtschaftsminister, Mieczyslaw Jagielski, bis nun Staatssekretär Ochabs, erst fünfunddreißig Jahre alt, Bauernsohn, doch mit Hochschulstudien, soll energisch jenen allzu liberalen Zuständen auf dem Dorfe den Garaus machen, denen man in Warschauer Regierungskreisen Schuld an der derzeitigen schweren Nahrungskrise beimißt. Der seit Mai dieses Jahres anfangs zögernd, dann in erschreckender Intensität spürbare Fleischmangel hat politische Folgen ausgelöst, die sich mit der Entwicklung auf dem religiösen Sektor zu einer betrüblichen Abkehr von den Errungenschaften des Oktobers 1956 vereinigen könnten; wir sagen noch nicht: vereinigen müssen. Was ist objektiv zu beobachten? Ueberall in den Städten verschwand das Fleisch, in erster Linie Schweinernes, vom Markt. Um es zu erhalten, standen die Hausfrauen Schlange. Hinten herum war es nur um ein Mehrfaches der amtlichen Preise zu kaufen. Unmittelbare Ursache davon war ein jäher Rückgang des Schweinebestandes. Die tieferen Gründe dieser Kalamität wie überhaupt der ins Wanken geglittenen Versorgung in einem vordem derlei nicht kennenden Agrarland waren, laut offizieller Lesart, folgende: die Einwohnerzahl des Landes steigt schneller als die Menge des lieben Viehs; zu eilig haben es auch die Löhne, die zwischen 1955 und 1959 im Durchschnitt beim Werktätigen von rund 1000 auf mehr als 1400 Zloty monatlich emporgeklettert sind. (Man denke, von theoretisch 40, faktisch nach Kaufkraft von 20, auf fast 60, beziehungsweise gegen 30 Dollar!). Die schlemmerischen, mit bourgeoisen Freßinstinkten behafteten Leute verzehren, da sie über so viel Geld verfügen, jährlich 40 statt, wie 193 8, 19 Kilogramm Fleisch. Da heißt es, erbarmungslos einschreiten. Also, los! Erhöhung der Fleischpreise um 28 Prozent beim Schwein, um 40 Prozent bei Konserven; Lohnstopp. Dies den genußsüchtigen Städtern. Den Bauern aber, die, von den Preisen des Schwarzen Marktes angelockt, Kartoffeln verfüttern, um Schlachtvieh zu züchten, Und dieses abtun, ohne an Reserven zu denken, rückt man zu Leibe, indem man sie sanft oder unsanft in die landwirtschaftlichen Ringe (Kölka) zwingt, die an Stelle der Kolchosen wie die Pilz«’ aus der Erde schießen.

Um das Maß voll zu machen, um jede Unklarheit zu vermeiden, werden drei Herren, die zur allgemeinen Befriedigung während einer geraumen Frist aus dem Vordergrund verschwunden waren, wieder an maßgebende Posten berufen. Eugeniusz Szyr, Schüler und rechte (sehr linke Hand) des gewesenen Wirtschaftsdiktators unter Bierut, Hilary Mine, und Julian Tokarski, jener Mann, der die Posener Unruhen vom Juni 1956 auf dem davon unbeschwerten Gewissen hat, erscheinen als Vizeuremierminister, in welcher Eigenschaft sie mit dem die wechselnden Konjunkturen durchdauernden Dritten dieses Ranges, Zenon Nowak, ein holdes stalinistisches Trio bilden werden. Ihm gesellt sich, aus Moskau berufen — wo er sich als gefügiger Botschafter Polens die Gnade Chruschtschows verdiente — der ähnlich geartete Gede hinzu, der dem Planungsleiter Jedrychowski als Helfer (und als künftiger Nachfolger?) beigegeben wird.

Ach, der seit Oktober 1956 zurückgelegte Weg ist weit und ein Weg zurück. Wie weit zurück er freilich geleiten wird, das vermag niemand vorherzusehen. Alle Errungenschaften jenes verdorrten Frühlings sind ja nicht dahin. Und vieles kann nur im Zusammenhang mit internationalen Gesichtspunkten gesehen werden, die im Augenblick sich gar eilig wandeln. Eines dünkt uns aber gewiß. Schon eben dieser Gesichtspunkte halber wird, kann der Weg zurück nicht bis in die unseligen Gefilde des einstigen Bierutismus münden. Die Politik Gomulkas wandelt, er verzeihe den klerikalen Vergleich, ihre Straße nach der Methode einer umgekehrten Springprozession: zwei Schritte vorwärts und drei zurück.

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