6568162-1950_07_04.jpg
Digital In Arbeit

Wohnbausorgen in der Sowjetunion

Werbung
Werbung
Werbung

Das Problem des Wohnungsbaues, das heute einer großen Zahl von Regierungen Kopfzerbrechen bereitet, kann am sowjetischen Beispiel studiert werden. An diesem Beispiel zeigt sich nämlich, daß die Schwierigkeiten, die sich der Lösung der Aufgabe entgegenstellen, nicht in der westlichen kapitalistischen “Wirtschaftsform ihre Ursache haben (wie dies die kommunistischen und andere linksgerichtete Parteien weismachen möchten), sondern daß sich die Bauwirt-schaft an sich, gleich, ob in privater oder staatlicher Hand, heute in einer allgemeinen Konstitutionskrise befindet.

Das europäische Rußland war nach Kriegsende eines der meistverwüsteten Länder. Allein auf dem flachen Land, dos heißt ohne die noch wesentlich schwerer wiegenden Zerstörungen in den Städten, waren im Gebiet der Russischen Förderation etwas über 1 Million Wohnstätten total zerstört worden. Für Weißrußland wurde diese Zahl offiziell mit mehr als 300.000 angegeben. Dazu kommen die Zerstörungen in den bäuerlichen Siedlungen der Ukraine, der Moldaurepublik und den baltischen Sowjetrepubliken. Der Wiederaufbau dieser Siedlungen erfolgte ausschließlich ohne Inanspruchnahme der Bauwirtschaft durdi die Kolchosen. Die in Erdlöchern, Scheunen und alten, aus den Krieigsjahren verbliebenen Unterständen hausenden Obdachlosen wurden durch die Kolchosen zur Gemeinschaftsarbeit aufgerufen; alle Dienste, vom Holzfällen bis zur eigentlichen Aufrichtung der neuen Wohnstätten, waren unentgeltlich, beziehungsweise lediglich gegen Verpflegung von allen arbeitsfähigen Familienangehörigen zu leisten. Der Staat gab im Gebiet der Russischen Föderation allein bis Ende 1947 10 Millionen Kubikmeter Bauholz ab, interessanterweise nicht umsonst, sondern gegen normale Bezahlung. Den ein-Zlnen Familien wurden die dafür nötigen Summen durch die Landwirtschaftsbank vor gestreckt, und zwar pro Familie bis zu 10.000 Rubel, die binnen sieben Jahren zurückgezahlt werden müssen. Bis Ende 1947 verkaufte der Staat auf diese Weise an die Kolchosen (als Vermittler) 10 Millionen Kubikmeter Bauholz; die Kolchosen, beziehungsweise die einzelnen Wohngemeinsdiaf-ten gingen Schuldverpflichtungen in einer Gesamthöhe von 0,5 Milliarden Rubel gegenüber der Landwirtschaftsbank ein. Diese Zahlen gelten nur für da.s Gebiet der Russisdien Föderation; sie gestatten immerhin einen kleinen Einblick in die ungeheure Verschuldung, in die der einzelne Sowjetbürger durch den Staat während der letzten Jahre stürzte, in seiner Eigenschaft als Gläubiger ist der Staat im Besitz vermehrter Mittel, um den Kolchosenarbeiter zu höherer Arbeitsleistung bei unverändert niedrigem persönlichem Aufwand zu verhalten.

Anders liegen die Verhältnisse bei ollen städtischen Bauvorhaben, bei denen der Staat — wenn man von Einfamilienhäusern an den Stadträndern absieht, die persönliches Eigentum der Bewohner sein können — selbst Bauherr ist; in diesem Falle nimmt er anstatt der Stelle des Bankiers die des Hausherren ein, der sich für die Kostenrechnung des Baumeisters interessiert und sein besonderes Augenmerk verbilligenden neuen Baumethoden zuwendet.

Besondere Erwartungen knüpfte man zunächst an die Erfahrungen, die der Instruktor für Stachanow-Methoden bei der Kriegs-bauhauptbehörde, Iwan Schirkow, gesammelt hatte. Er behauptete, für Maurerarbeiten, die sonst von Professionisten ausgeführt wurden, bei Verwendung aussdiließ-lich berufsfremder Personen, nach seinen Methoden nur ungefähr ein Drittel der bisher üblichen Zeit zu benötigen. Er hatte ein sinnreiches Verfahren zur Einsparung verschiedener vom Maurer verwendeter Hilfsmitte! (zum Beispiel des Richtbrettes und der Schnur) erdacht, er konstruierte eine döppelgriffige Kelle, die auch als Hammer verwendet wird, er stellte den bisher fußlosen Mörteltrog auf Füße, so daß er, ohne vom Boden gehoben zu werden, von einem daruntergeschobenen Schubkarren aufgenommen werden kann, und führte Schubkarren mit Wagenkasten ein, die durch einen Hebelgriff schräg gestellt und entleert werden können. Mit diesen neuen Geräten errichteten Arbeitsbrigaden unter Schirkows Führung zahlreiche große Bauten in Moskau, wobei sie — nach Angaben der Zeitung „Trud“ — täglich zwei bis zweieinhalb Tagesnormen erfüllten.

Die von Schirkow und anderen Stachanowzen des Baugewerbes angeregten Verbesserungen führten zu einer Neuregelung, das heißt Erhöhung der Normen sowie zu Vorschlägen über eine generelle Durchführung des sozialistischen Leistungswettstreites der Bauarbeiter unter sich. Ein Maurerbrigadier des staatlichen Trusts „Mosscbilstroj“ („Moskauer Wohnungsbau“) schlug eine Methode vor, die es ermöglichte, die Leistungen der Maurer (ausgedrückt in je 1000 Stüde verbauter Ziegel), der Anstreicher (ausgedrückt in Quadratmetern An-strichfiädie), der Tischler (in Kubikmetern gelieferter Fenster- und Türstöcke) sowie der anderen Berufe nach einem Punktesystem miteinander zu vergleichen. Damit schien zu Beginn der Bausaison 1949 die Voraussetzung zu einer wesentlichen

Leistungssteigerung und damit zu einer ins Gewicht fallenden Verkleinerung d es Lohnfaktors in der Baukostenredinung gegeben zu sein.

Der Erfolg war jedoch nicht zufriedenstellend. Nidit nur, daß das Bauen durch die Anwendung von ein paar neuen handwerklichen Griffen und die Einführung rigoroser Normbestimmungen keinesfalls entscheidend rationalisiert werden kann — das Ausmaß der von den Stachanowzen verkündeten Einsparungen war wesentlich überschätzt, die Norm- und Planziffern waren daher zu hoch angesetzt worden, der Leistungsplan für den Sommer 1949 wurde also zum großen Teil nicht er f ü 1 lt.

Ein in den „Iswestija“ vom 2. September veröffentliditer Leitartikel macht kein Hehl daraus, daß die Hoffnung, mit den überkommenen Baumethoden weiterzukommen und in ihrem Rahmen entsdieidend rationalisieren zu können, endgültig aufgegeben wurde. Von 63 Trusts des „Ministeriums für den Bau von Anlagen der Schwerindustrie“ konnten nur 28 den Bauplan für die erste Jahreshälfte 1949 erfüllen. Über die Produktionsergebnisse der den anderen Bauministerien unterstehenden Betriebe wurde in diesem Zusammenhang nidit ziffernmäßig berichtet, wohl aber wird daraus ersichtlich, daß die für den Wohnungsbau arbeitenden Truste die Planziffern noch unzureichender erfüllten als die für die Sdiwerindustrie tätigen Baubetriebe.

Die „Iswestija“ wirft den Führern der

Truste vor, daß sie versuchen, „die neuen Aufgaben mit überlebten, unter den gegenwärtigen Bedingungen ungeeigneten Mitteln zu lösen“. Neben dem Einsatz der Stacha-now-Organisation müsse — und dieser Punkt rückt nunmehr an die erste Stelle — ,,die Anwendung fortschrittlicher, industrieller Fließbandmethoden“ betrieben werden.

Bereits aus früheren Publikationen in der Sowjetpreise ging hervor, daß die Betriebe des Ministeriums für Baumaterialien auf der Suche nach neuen Wegen sind. Es wurden Versuche zur Erzeugung neuer Baustoffe unternommen, wobei unter anderem Torf eine Roüe spielte, während man im holzarmen Embagebiet (am Kaspischen Meer) für Siedlungen des dortigen ölkombinats einen neuen Leichtbaustoff aus Musdieln und Alabaster herstellte. Auch die Typenerzeugung ganzer im voraus erzeugter Häuser machte Fortschritte. Die Fabrikation von Fließbandhäusern erwies, wie die „Iswestija“ feststellen, bereits ihre „unschätzbaren Vorzüge“ auf Baustellen von Moskau, Leningrad, Magnitogorsk, Sapo-roschje und Stalingrad. Andere große Bautruste aber, wie zum Beispiel das von Tschel-jabinsk, konnten infolge Nichtanwendung der industriellen Methoden das ihnen vorgeschriebene Wohnbauprogramm mitunter mir bis zu einem Drittel erfüllen.

Diese offiziellen sowjetischen Angaben zeigen deutlich, daß die Krise des Wohnungsbaues und des Bauwesens im allgemeinen eine struktuelle Krise der Bauwirtschaft ist, daß sie also ebenso das planwirtschaftlich gelenkte Sowjetrußland heimsucht wie die europäischen Länder oder die Vereinigten Staaten von Amerika — unabhängig von den versdiiedenen Besitzverhältnissen an den Arbeitsmitteln, von der verschiedenen Einsatzweise der mensdilichen Arbeitskraft und von den verschieden gearteten Finanzierungsmethodeen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung