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Der wilde Norden

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Besuch im neuen Unionstaat Alaska.

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Besuch im neuen Unionstaat Alaska.

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Juneau ist die Hauptstadt Alaskas, eine Hauptstadt mit siebentausend Einwohnern, die man nur mit dem Schiff oder mit dem Flugzeug erreichen kann, weil die engen, steilen Straßen bald zwischen Gletschern und Bergwänden enden. Juneau liegt nicht im eigentlichen Alaska, jener riesigen Halbinsel von der fast siebzehnfachen Größe Österreichs, sondern mitten in seinem „Pfannenstiel“, dem schmalen Küstenstreifen Südostalaskas, der sich, gebirgig und reich an Fjorden, zwischen Kanada und den Pazifischen Ozean drängt.

Seinen Namen verdankt die neue Bundeshauptstadt einem Trinkgelage, bei dem vor sechzig Jahren der kleine Ort Harrisburg zu Ehren des glücklichen Goldgräbers Joe Juneau nach ihm benannt wurde. Man wollte Joe damit nur bewegen, in vorgerückter Stunde noch ein paar Runden zu spendieren, und den Namen am nächsten Tag wieder ändern. Aber er blieb erhalten wie vieles andere aus den stürmischen Goldgräbertagen um die Jahrhundertwende, in denen Alaskas Glanz und Aufstieg begannen.

Nirgendwo war die Freude über die Aufnahme des Territoriums Alaska als neunundvierzigsten unter die Vereinigten Staaten Amerikas in der vergangenen Woche größer als in Juneau. Freudenfeuer brannten auf den Bergen, Kirchenglocken wurden geläutet und Sirenen und Autohupen veranstalteten ein ohrenbetäubendes Konzert, als am 1. Juli bekannt wurde, daß der amerikanische Senat mit 62 gegen 20 Stimmen der Aufnahme zugestimmt hatte. US-Flaggen wurden gehißt, die zum erstenmal neunundvierzig Sterne zeigen. Hunderttausende andere Fahnen werden bis zum Dezember noch geändert werden müssen.

Juneau ist der Sitz des Gouverneurs Michael Stepovich, der sich mehr als alle anderen für die Selbstverwaltung Alaskas eingesetzt hat, obwohl er dadurch zunächst seinen Posten verliert. Als Stepovich kürzlich gefragt wurde, wie er sich die zukünftige Bevölkerungszahl Alaskas vorstelle (trotz seiner gewaltigen Größe hat das Land derzeit nur 213.000 Einwohner), antwortete er, daß Alaska in fünfzig Jahren wahrscheinlich 3ti'JftÜhonen'EinWöh'nei haben werde.

S1TKA, unweit von Juneau am Stillen Ozean gelegen und mit seinen 4000 Einwohnern nicht eben groß, war einst die blühendste Stadt Amerikas. Heute erinnern nur noch die Zwiebeltürme der russisch-orthodoxen Kirche St. Michael an diese bewegte Vergangenheit, und die Indianer, die Familiennamen wie Iwanow und Petrowitsch tragen und alle Weißen grundsätzlich als Kosaken bezeichnen. Alaska war anfangs, nachdem es der russische Seeoffizier Vitus Bering, ein gebürtiger Däne, am 16. Juli 1741 entdeckt hatte, eine russische Kolonie. Schelikow und Baranow, die Leiter der „Russisch-Amerikanischen Handelsgesellschaft“, bauten hier das umfangreiche Imperium „Russisch-Amerika“ auf, dessen Einfluß bis nach San Franzisko und Hawai reichte. 1799 gründete Baranow die Handelsstadt Sitka, die „Königin der Pazifikküste“, in der auch die Glocken für die spanischen Klöster Kaliforniens gegossen wurden.

Als der Pelzreichtum Alaskas abnahm, betrachtete Rußland „sein Amerika“ jedoch immer mehr als eine Last, und deshalb bot der Zar schließlich den jungen Vereinigten Staaten Alaska billig zum Kauf an.

Aber auch in den USA war man von diesem Land nicht sehr begeistert. Die Verhandlungen zogen sich an die fünfzehn Jahre hin; endlich vereinbarte der amerikanische Außenminister Seward am 20. März 1867 mit dem russischen Minister Stöckl den Kaufpreis von 7,2 Millionen. Am 18. Oktober übernahmen die Vertreter der USA in der Stadt Sitka offiziell das neue Territorium. Die meisten Amerikaner hielten Seward damals für verrückt; noch Jahre später bezeichnete man Alaska im Volksmund als „Sewards Dummheit“. Seit 1867 hat diese Dummheit den USA an Mineralien, Fischen (Lachs) und anderen Produkten mehr als 3 Milliarden Dollar eingetragen.

Anchorage, an einem Fjord der Südküste des eigentlichen Alaska gelegen, ist mit seinen 95.000 Einwohnern weitaus die größte Stadt des Landes. Hier im hohen Norden, zweieinhalbtausend Kilometer von den - bisherigen - Grenzen der USA, ist gleichwohl in jeder Straße Amerika. Zwei Fernsehsender schicken ihre Wellen in einen Wald von Fernsehantennen, die über die Dächer der Holzhäuser, der modernen Wohnbauten und der beiden 14 Stock hohen

„Bürowolkenkratzer“ hinausragen. Straßenkreuzer parken in den beiden schnurgeraden Straßen und auf Merrill Air Field, nur wenige Kilometer von undurchdringlichen Urwäldern entfernt, landen und starten jeden Tag an die achthundert Maschinen; es ist der drittgrößte Flugplatz Amerikas. Anchorage hat ein eigenes Symphonieorchester und will demnächst eine eigene Universität (die zweite Alaskas) gründen. In seinen Supermarkets bekommt man die gleichen Waren wie bei Macys in New York, allerdings beträchtlich teurer. Denn noch immer ist das Transportproblem Alaskas ungelöst. Die einzige Eisenbahn des Landes (eine Linie, die auf ihrem Weg von Anchorage nach Fairbanks übrigens an einigen noch tätigen Vulkanen vorbeiführt) und der Alcan-Highway, der während des Krieges quer durch Kanada nach Fairbanks gelegt wurde, sind nur bescheidene Anfänge eines Verkehrsnetzes. Alle übrigen Routen müssen entweder per Schiff oder — wie im Inneren Alaskas — mit dem Flugzeug zurückgelegt werden. Den Hundeschlitten hat das Flugzeug längst verdrängt, und zwar nicht deshalb, weil es schneller ist, sondern weil die Hunde auf der oft wochenlangen Fahrt von einer Stadt zur anderen Trockenfleisch im zehnfachen Wert des Flugpreises fressen.

All diese Verkehrsschwierigkeiten erhöhen die Preise so, daß ein US-Dollar in Anchorage nur noch eine Kaufkraft von 71 und in Fairbanks von 65 Cent hat. Allerdings sind auch die Löhne in Alaska entsprechend hoch. Ein Elektriker verdient fünf Dollar pro Stunde und 1000 Dollar monatlich sind für einen höheren Angestellten nicht zuviel. Reicher noch wird Anchorage werden, wenn die neuentdeckten Öllager südlich der Stadt zu fließen beginnen.

Die Hoffnung des Landes, die „Boomtowns“, die Anchorage so rasch wachsen läßt, sind seine Bodenschätze. Erst zwei Prozent des Bodens Alaskas sind eingehend erforscht worden — und schon hat man darin 31 der 33 „kritischen“ Metalle, die die USA brauchen, entdeckt; von Kohle und Erdöl nicht zu reden.

Aber der Boden ist auch an seiner Oberfläche reich: nur etwa zwei Drittel Alaskas sind Tundra oder unfruchtbares Bergland. 35 Prozent sind mit dichten, hohen Wäldern (Ertrag 1957: 34,4 Millionen Dollar) oder mit Ackerland bedeckt. Die Landwirtschaft Alaskas ist über erste Anfänge zwar noch kaum hinausgekommen, aber sie hat großartige Möglichkeiten. Der Sommer ist in Alaska oft heißer als in Österreich; da die Hochsommertage im Norden mehr als zwanzig Stunden dauern, sind im Inneren des Landes Julitemperaturen zwischen 35 und 40 Grad keine Seltenheit. In diesem konzentrierten Sommer reift der Roggen doppelt so schnell wie in Mitteleuropa, Kohlköpfe erreichen ein Gewicht von 15 bis 20 Kilogramm und die Mückenplage nimmt besonders schlimme Formen an. Der Winter kommt dann allerdings früh und bringt Temperaturen von 40 und 50 Grad unter Null. An der Küste, in Anchorage, Juneau und Seward, ist das Klima gemäßigter und feuchter.

Fairbanks hat 5 5.000 Einwohner und liegt im „Goldenen Herzen“ Alaskas. Manchmal wird Fairbanks von seinen Bewohnern als der „Mittelpunkt der Welt“ bezeichnet, denn von hier sind es nach New York 5200 km, nach Los Angeles 3900 km, nach Tokio 5600 km, nach London 6750 km und nach Leningrad 6100 km. Wer von Moskau nach Kalifornien will, fliegt am kürzesten über den Nordpol — und über Fairbanks. Das ist nicht zuletzt der Grund dafür, warum heute in Fairbanks und anderen Orten Alaskas (das an der engsten Stelle der Beringsee nur 65 km von Sibirien entfernt ist) einige tausend Soldaten und Flugzeuge stationiert sind. Der Bau von Stützpunkten und Flugfeldern trug viel dazu bei, daß sich die Bevölkerung Alaskas wählend des letzten Krieges von 72.000 auf das Doppelte erhöhte, und Fairbanks lebt auch heute noch zum Teil vom Ausbau und von der Erhaltung der Ladd- und der Eielson Air Force Base.

Ihre Gründung im Jahre 1903 verdankt die auf reichen Kohleflözen liegende Stadt dem dritten der drei großen Goldräusche. Der erste Goldrausch war ausgebrochen, als 1896 am Klondike Gold gefunden wurde. Damals gab es in Alaska bloß 500 Weiße; ein paar Jahre später waren es zehntausende. Der zweite Goldrausch folgte einem Fund bei Nome, an der Küste der Beringsee. Seit damals wurde Gold im Werte von 700 Millionen Dollar aus dem Boden geschürft und mindestens ebensoviel dürfte heute noch darin liegen. Aber der Beruf des Goldgräbers ist jetzt so unrentabel wie der des Trappers: Bergwerkgesellschaften und Pelztierfarmen erzielen weit bessere Erträge als einsame Glücksritter. Die nördlichste Hochschule der Welt, die Universität von Fairbanks, wird von 900 Hörern besucht, die größtenteils Naturwissenschaften studieren.

Nome liegt an historischem Ort, dort, wo die Wellen der Beringsee den flachen Rand der Tundra bespülen. Wenn sich die Menschen vor zehn- und zwanzigtausend Jahren hier damit aufgehalten hätten, Paläste und Wälle zu bauen, wäre Nome die älteste Stadt der Welt. So aber strömten die Ureinwohner Amerikas auf ihrem Weg aus Innerasien an diesem Bahnhof der Geschichte nur vorbei und bauten ihre Paläste weiter im Süden, in Mexiko Tenochtitlan, in Cuzco und Tiahuanaco.

Die älteste Einwanderungswelle aus Asien bildeten die Eskimos. Während die Indianer Alaskas in den Tälern Süd- und Südostalaskas leben, bevölkern die Eskimos die Inseln im Westen des Landes sowie seine West- und Nordküste. Sie bilden auch den größten Teil der 2000 Einwohner Nomes. Die Gesamtzahl der Eingeborenen Alaskas (die auf den Namen „Eingeborene“ sehr stolz sind) ist heute 3 8.000.

Die Eskimos (in ihrer Sprache heißt „Alaykhshak“ - Alaska - „Großes Land“) sind große Freunde der modernen Zivilisation. Man hat größte Anstrengungen gemacht, ihnen ihr traditionelles Leben zu erhalten, hat Fisch- und Robbenfanggründe für sie reserviert und um die Jahrhundertwende 1500 Renntiere eingeführt, die sich bereits auf über eine Million vermehrt haben. Aber die Eskimos lernten das Radio kennen und die Schokolade; sie wollen nicht mehr ohne Zucker, Mehl und Außenbordmotore leben und sie ziehen Ananaskonserven ihrer alten Delikatesse Tundraheidelbeeren in Lebertran vor. Sie bauen keine Kajaks mehr und nähen keine Parkas aus Fellen; dafür aber sagt man ihnen nach, daß sie einen Motor noch reparieren können, wenn ihn jeder weiße Mechaniker längst aufgegeben hat: mit einem Stückchen Draht, mit Fischbein und Lederstreifen. Mancher Eskimo verdient heute als Radiotechniker in Nome 8000 bis 10.000 Dollar im Jahr und schickt seine Söhne nach Fairbanks auf die Universität. Im übrigen sind fast alle Eskimos heute „westlich“ angezogen und eine Eskimofrau, die in ihrem elektrifizierten Heim in Nome dem Berichterstatter von ihren sechzehn Kindern erzählte, sagte halb traurig, halb heiter über sie: „Ach, sie sind alle Kosaken geworden, lauter Kosaken...“

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