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Die Wunden nicht ganz sind noch verheilt

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Vor zehn Jahren, Ende April 1975, eroberten die Nordvietnamesen Saigon. Damit war auch ein düsteres Kapitel der Geschichte der USAzu Ende, die mehr als 20 Jahre in Indochina militärisch engagiert gewesen waren. Hier eine Bestandsaufnahme, wie die US-Amerikaner „ihren” Vietnamkrieg bis jetzt bewältigt haben.

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Vor zehn Jahren, Ende April 1975, eroberten die Nordvietnamesen Saigon. Damit war auch ein düsteres Kapitel der Geschichte der USAzu Ende, die mehr als 20 Jahre in Indochina militärisch engagiert gewesen waren. Hier eine Bestandsaufnahme, wie die US-Amerikaner „ihren” Vietnamkrieg bis jetzt bewältigt haben.

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Zehn Jahre nach dem endgültigen Abzug aus Vietnam sind die wesentlichen Fragen über Sinn und Art des amerikanischen Engagements in Südostasien alle noch mehr oder weniger unbeantwortet. Es war die erste Niederlage der siegesgewohnten G.I.'s in einem Krieg. Nach Meinung vieler Beobachter hat die Brutalität der Kriegsführung die Amerikaner auch dazu gezwungen, vom hohen Roß herunterzusteigen, ein „moralischer Leuchtturm” der Welt zu sein.

Präsident Ronald Reagan hat mit seiner schon vor einigen Jahren gemachten Feststellung, in Indochina hätten die Amerikaner für eine „edle Sache” gekämpft, die Diskussion über die kaum verheilte Wunde Vietnam wieder in Gang gebracht.

„Why were we in Vietnam?” — Warum waren wir in Vietnam? Diese Frage brennt vielen Amerikanern auf dem Herzen. Und noch andere mehr: Warum überhaupt haben die USA in einer mehr als 20 Jahre lang währenden Intervention 58.000 Menschenleben in den Dschungeln und Reisfeldern Indochinas geopfert und 150 Milliarden Dollar gegen einen meist unsichtbaren Feind verpulvert? Wer trägt die Verantwortung für die militärische Niederlage der so hochgerüsteten Amerikaner?

Das oft gehörte Argument, die Amerikaner hätten nicht gewußt, was sie mit ihrem Engagement in Vietnam überhaupt erreichen wollten, stimmt nur zum Teil: Sie wußten es nicht genau. Aber sie hatten eine Vielzahl von Gründen, von denen sie überzeugt waren, daß sie es wert seien, dafür zu kämpfen.

Als sich Präsident Dwight D. Eisenhower 1954 anstelle der alten französischen Kolonialmacht, die gerade den ersten Indochinakrieg gegen Ho Tschi Minhs Kommunisten verloren hatte, in Vietnam zu engagieren begann, wollte er vor allem eines: die Ausbreitung der Kommunisten in Südostasien eindämmen. Wie im Dominospiel galt es, den ersten Stein zu stützen, um zu verhindern, daß alle angrenzenden Steine umfallen.

1965 schickte Präsident Lyndon B. Johnson die ersten regulären Truppen ins Feld gegen die kommunistischen Guerillas. Er erklärte, man kämpfe für das Selbstbestimmungsrecht der südvietnamesischen Alliierten und man wolle ihnen beim Kampf für ihre Freiheit beistehen.

Der Präsident aus Texas wollte die,.Herzen und Seelen” der vietnamesischen Bauern gewinnen. Die freilich hatte sein Vorgänger, Präsident John F. Kennedy, mit dem Programm der „strategischen Wehrdörfer” zu einem guten Teil bereits verspielt.

Der „Missionsgedanke”, die USA trügen eine globale Verantwortung und müßten den besten Interessen der Menschheit dienen, bestimmte dabei von Anfang an die amerikanisch-südostasiatischen Beziehungen. James Thomson, Historiker und ehemaliger Berater Kennedys, nannte diese Grundtendenz einen „sentimentalen Imperialismus”. /

Die USA kämpften in Indochina schließlich für das Prinzip, daß übernommene Verpflichtungen auch zu erfüllen seien: Amerika als Leitpferd des Westens müsse in der Verteidigung der menschlichen Freiheiten kompromißlos sein, um seine Glaubwürdigkeit in der Welt aufrechtzuerhalten.

1968 kämpften bereits mehr als eine halbe Million US-Soldaten in einem Krieg, in dem die Gewalt grauenhaft eskalierte: B-52-Bomber-Geschwader luden in täglichen Angriffen tausende Tonnen Sprengstoff über vietnamesischem Boden ab, ganze Landstriche wurden mit hochgiftigen Pestiziden entlaubt.

Mit einer hochmobilen Kriegsführung, gestützt auf Hubschrauberflotten, wurde der Feind gesucht, um ihn zu zerstören („Search and destroy”). Der Feind aber war meistens von der Zivilbevölkerung kaum zu unterscheiden. So wurden dann zur „Rettung” Südvietnams ganze Dörfer ausradiert. Das My-Lai-Massa-ker ist für diese Art brutaler Kriegsführung zum Symbol geworden.

1968 kämpften die USA auch noch, um diesen Krieg zu gewinnen. Täglich wurden optimistische Berichte über die Kriegslage nach Washington geschickt - als ob der Sieg nur noch eine Frage der Zeit gewesen wäre. Die Politiker aber hatten bereits ein klares Kriegsziel aus dem Auge verloren.

Bis der Wendepunkt kam: die Tet-Offensive der Nordvietnamesen und des Vietcong im Frühjahr 1968. Heute weiß man, daß diese Schlacht eine schwere militärische Niederlage für die Kommunisten bedeutete. Die entscheidende Wende aber erfolgte an der „Heimatfront”: In den USA wurde die Kritik der Kriegsgegner so laut, daß Richard Nixon, der 1968 zum Präsidenten gewählt worden war, mit dem Truppenrückzug der frustrierten G.I.'s begann und die Hauptlast des Krieges an die südvietnamesischen Verbündeten übertrug.

1973 zogen sich die Amerikaner endgültig zurück, nachdem Henry Kissinger mit dem nordvietnamesischen Vertreter Le Duc Tho in Paris ein Waffenstillstandsabkommen ausgehandelt hatte. Die Amerikaner hofften, damit ihr Gesicht wahren zu können. Um die militärische Niederlage aber konnten sie sich nicht herumdrücken.

Die Nordvietnamesen überrollten Südvietnam überraschend schnell, da der amerikanische Kongreß die notwendigen Mittel nicht länger bewilligte, um Ngu-yen Van Thieus korruptes südvietnamesisches Regime zu halten. Am 30. April 1975 fiel Saigon.

Die Amerikaner reagierten zunächst einmal ähnlich wie die Deutschen nach 1945. Die Nation versuchte, die dramatischen Ereignisse kollektiv zu verdrängen. So gut es ging, schwieg man eben über den Vietnam-Krieg.

Die mehr als zwei Millionen Vietnam-Veteranen waren die ersten amerikanischen Soldaten gewesen, die man zuhause nicht als Kriegshelden mit Konfetti-Paraden begrüßt hatte. Jahrelang wurden sie dazu gezwungen, mit ihren mörderischen Erfahrungen alleine fertig zu werden. Depressionen bei vielen und Wahnsinn bei nicht wenigen waren und sind Resultate davon. Vor kurzem begannen sie sich selbst der Öffentlichkeit wieder ins Gedächtnis zu rufen - mit den Kriegsdenkmälern, die sie sich in Washington errichtet haben.

Seit einiger Zeit hält nun aber auch in der breiten amerikanischen Öffentlichkeit die Diskussion an, wer die Schuld für die Niederlage trägt. Die Militärs klagen die Medien an, sie hätten ihnen mit ihrer negativen Berichterstattung den möglichen Sieg vereitelt. Überdies beklagen sie sich darüber, daß unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen - zum Beispiel, daß sie keine Offensive auf nordvietnamesisches Territorium unternehmen durften - der Krieg einfach nicht zu gewinnen gewesen sei.

Es gibt aber auch Selbstkritik unter den Militärs: Man hätte keine klaren Kriegsziele gehabt und deshalb auch keine Gewinnstrategie. Man habe gerade genug getan, um den Krieg nicht zu verlieren.

Ex-Präsident Nixon schiebt die Schuld für die Niederlage dem Kongreß und den Kriegsgegnern in die Schuhe. Mit ihrem Defätismus hätten sie zuhause die Moral untergraben und außerdem nicht die notwendigen finanziellen Mittel bewilligt, um die südvietnamesische Regierung nach 1973 am Leben zu erhalten.

Viele Parlamentarier wiederum schieben der Exekutive die Verantwortung zu: Die Präsidenten Johnson und Nixon hätten den gutgläubigen Kongreß belogen und mißbraucht und die USA im vietnamesischen Kriegssumpf verstrickt, ohne je um eine Kriegserklärung gefragt zu haben. Deshalb sei der Krieg auch verfassungswidrig gewesen.

Explizite Dolchstoßlegenden aber gibt es keine, obwohl gewisse Leute daran basteln.

Versuchen die Amerikaner nun aus der Intervention in Vietnam Lehren zu ziehen? Ja, aber sie ziehen vielfältige Schlußfolgerungen, die sich oft widersprechen.

Der bekannte Dramatiker Arthur Miller meint, in Vietnam ha-

„Es ist wahr: Die Amerikaner haben Vietnam mehr als fünf Jahre aus ihrem Gedächtnis verdrängt” be Amerika aufgehört, allmächtig zu sein. Aber diese Lektion ist noch jeder Nation im Laufe ihrer Geschichte widerfahren.

Ähnlich klingt es aus dem Munde von Stanley Karnow, Autor eines vielgelesenen Buches über den Vietnam-Krieg: „Wir haben versagt, weil wir versuchten, unsere Werte Menschen einer total anderen Kultur aufzuzwingen. Es gibt Orte auf der Welt, die man halt nicht wie Amerika regieren kann.”

Leslie Gelb von der „New York Times” blickt zurück und meint: „Laos und Kambodscha sind gefallen wie vorhergesagt, die anderen Dominos aber stehen alle noch.” Amerika habe zwar an Glaubwürdigkeit in der Welt eingebüßt, der Verlust Vietnams aber habe keinen „erbärmlichen, hilflosen Riesen” Amerika hinterlassen.

Im Gegenteil: Die meisten Asienexperten stimmen darin überein, daß Amerikas Stellung im Fernen Osten in den letzten 40 Jahren noch nie so stark gewesen sei wie heute. Während China eine Art strategischer Alliierter der USA geworden ist und es mit Ausnahme der Philippinen schon lange nicht mehr so viele stabile Regierungen in Asien gegeben hat, hat sich Vietnam zu einem Mühlstein um den Hals Moskaus entwickelt.

Im Zusammenhang mit den Krisen im Libanon und in Mittelamerika ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, in welchen Fällen nach den Erfahrungen des Vietnam-Debakels denn überhaupt amerikanische Truppen zum Einsatz kommen sollten. Verteidigungsminister Caspar Weinberger meinte in einer vielbeachteten Rede zu Beginn dieses Jahres, ein Engagement von Truppen im Ausland sollte nur allerletzte Zuflucht der amerikanischen Außenpolitik sein und nur dann erfolgen, wenn Bürger und Kongreß einen solchen Einsatz hundertprozentig unterstützten.

Es ist wahr: Die Amerikaner haben mehr als fünf Jahre Vietnam aus ihrem Gedächtnis verdrängt. Inzwischen aber wird nicht nur in der Politik, in den Medien und in der Öffentlichkeit viel

über Vietnam diskutiert, der In-dochina-Krieg wird auch immer mehr zum Gegenstand des Studiums und der Forschung an den amerikanischen Hochschulen und Universitäten. Dabei wird die Schuldfrage keineswegs ausgeklammert.

Zwar versuchen manche Konservative, den „Dämon Vietnam” aus der amerikanischen Geschichte auszutreiben, aber das wird ihnen wohl nicht gelingen. Das Vietnam-Kapitel in seiner vielfältigen Komplexität hat schon einen festen Platz in den amerikanischen Geschichtsbüchern. Ja, man kann sagen: Die Amerikaner haben nach ihrem traumatischen Tief Mitte der siebziger Jahre außergewöhnliche Regenerationsfähigkeit bewiesen und „ihren” Vietnam-Krieg wesentlich schneller zu bewältigen begonnen als viele europäische Länder nach 1945 den Zweiten Weltkrieg.

Der Autor studiert Geschichte an der Havard-Universität

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