6815240-1973_05_01.jpg
Digital In Arbeit

Blanko für den Vietkong?

Werbung
Werbung
Werbung

Unvorstellbar erschien es uns, als wir in der Schule vom Dreißigjährigen Krieg hörten, daß eine militärische Auseinandersetzung so lange dauern könne. Und nun sind wir alle selbst Zeugen eines dreißigjährigen Krieges geworden. Am 28. Jänner um 1 Uhr morgens sollten, nach den Bestimmungen des Waffenstillstandsabkommens, cfrfe Waffen in Vietnam schweigen, die mehr als dreißig Jahre lang mit ihrem Lärm die indochinesische Welt erfüllt hatten.

Präsident Wilson, der die Vereinigten Staaten in den ersten Weltkrieg geführt hat, stellte als eines der Kriegsziele die Forderung auf, daß die Geheimdiplomatie für immerwährende Zeiten zum Schweigen gebracht werden sollte. Sein achter Nachfolger Nixon hat nun, auf Grund von jahrelang geführten geheimdiplomatischen Verhandlungen, den Waffenstillstand zwischen den USA und Südvietnam einerseits, Nordvietnam und dem Vietkong anderseits herbeigeführt.

Mehr als dreißig Jahre hat dieser schmutzigste aller Kriege in Vietnam getobt. Zuerst rund anderthalb Jahrzehnte lang gegen die französische Kolonialmacht, dann, seit 1956, gegen die USA.

Der Krieg erlosch an beiderseitiger Erschöpfung, ähnlich, wie seinerzeit der Dreißigjährige Krieg von 1618 bis 1648. Denn nicht nur Indo-china befand sich mehr als 30 Jahre lang im Kriegszustand, auch die USA stehen faktisch dreißig Jahre lang unter Waffen: dem Krieg gegen die Achsenmächte und Japan folgte der Krieg in Korea und, seit 1956, der Krieg in Vietnam. Deutschland dagegen stand von 1939 bis 1945, also nur sechs Jahre lang im Krieg, Großbritannien nur fünf und die Sowjetunion gar nur vier. Begreiflich, daß ganz Amerika dieses Krieges müde wurde. Es ist der erste Krieg in der Geschichte der Vereinigten Staaten, den diese nicht gewonnen haben. Wenn es auch völlig verfehlt wäre, zu behaupten, daß die Vereinigten Staaten ihn verloren hätten. Er endete für die USA „remis“. Dieser schmutzigste aller Kriege zeigte, daß eine Guerillaarmee jahrelang einer hochmotorisierten, starken Militärmacht widerstehen kann. (Woraus das österreichische Bundesheer verschiedene Konsequenzen ziehen müßte und ebenso die Bundesregierung.) Wären die USA nach dreißig Jahren Krieg nicht dieses Waffenganges so müde gewesen, dann hätten sie ihn vielleicht eines Tages doch gewonnen. Denn gerade die letzte enorme Offensive der Amerikaner brachte auch Nordvietnam und den Vietkong zur Einsicht, daß eine Weiterführung des Krieges für sie sinnlos wäre.

Kennedy, zu seinen Lebzeiten und auch noch einige Jahre nach seinem gewaltsamen Tod, als Heiliger und Held angesehen, führte die USA in diesen Krieg hinein. Der einzige Grund, den er hiefür angab, war, die USA könnten ihre Freunde nicht im Stich lassen und müßten gegen den Kommunismus kämpfen. Es war eine Art Kreuzzug, in d er die USA trieb und den sein Nachfolger Johnson fortsetzte.

In den ersten und den zweiten Weltkrieg waren die USA aus einem für die deutschen Politiker unbegreiflichen Grund eingetreten: denn die USA konnten nach deutschen Vorstellungen in diesen Kriegen nichts gewinnen. Die Deutschen übersahen das angelsächsische Zusammengehörigkeitsgefühl, das im Unterbewußtsein auch die USA, diese abgefallene Kolonie, besaß und das sie dazu trieb, das einstige Mutterland nicht im Stich zu lassen. Kennedy ging über diesen Grundsatz, der die Politik aller angelsächsischen Länder bewegt, weit hinaus. Vielleicht erlitt deshalb seine Politik, die den USA enorme Verluste an Menschen, Material und Geld brachten, Schiffbruch. Die USA ist nun zu müde, um sich weiter in die Händel der Welt zu mengen und aus der interventionistischen Politik, in die Wilson und Roosevelt die USA führten, schwenkt sie nun wieder hinüber in ein isolationistisches Zeitalter, in dem sie sich der Lösung der eigenen Probleme, deren Zahl nicht gering ist, widmen will.

Werden jetzt die Waffen in Indo-china schweigen? Die amerikanischen auf jeden Fall. Denn das Weiße Haus verlautete, daß, was immer in Indochina geschehen werde, die USA sich nicht mehr einmengen wollten. Was eigentlich eine Blankovollmacht für Nordvietnam und den Vietkong bedeutet, sich nicht an den Waffenstillstand zu halten. Und tatsächlich besagen die ersten Nachrichten nach Abschluß des Waffenstillstandes, daß die Waffen noch nicht zum Schweigen gekommen sind. Der Vietkong wird sicherlich versuchen, soviel Territorium wie nur möglich noch in seine Hände zu bekommen, bis auf internationalen Druck auch seine Truppen werden stehenbleiben müssen. Erst dann wird wahrscheinlich die vereinbarte Abstimmung in Südvietnam stattfinden. Wie sie ausgehen wird, scheint auf den ersten Blick nicht sehr fraglich.

Denn merkwürdigerweise wurde bei diesem Waffenstillstand die Abstimmung in Südvietnam ohne Forderung nach einer gleichen Abstimmung in Nordvietnam vereinbart. Ähnlich wurde vor einiger Zeit Ostberlin ohne Gegengabe an die DDR verschenkt und ebenso wurde seinerzeit das Sudetenland ohne Gegenforderung Hitler übergeben.

Besteht somit keine Chance, daß dem Siegeszug des Vietkong Einhalt geboten wird? Besteht keine Chance, daß der Krieg endet, sondern eher so lange weitergeht bis ganz Südvietnam „angeschlossen“ ist? Dennoch besteht eine kleine Chance. Den asiatischen Großmächten, das sind Rußland, China und Japan, ist es natürlich nicht gleichgültig, wer in Südvietnam der Herr ist. Hat China, das an Nordvietnam grenzt und das es schon einmal durch Jahrhunderte besetzt hatte, ganz Indochina in der Hand, dann hat es den eisernen Gürtel, den Rußland um China legt, an einer Stelle wirksam durchbrochen. Und das wird Rußland nicht zulassen. Die Sowjetunion, das reaktionärste Regime der Welt, wird so zum natürlichen Verbündeten Saigons. Wie dem Kreml de Gaulle lieber war als ei\ kommunistischer Präsident Frankreichs, so ist ihm Thieu lieber als ein südvietnamesischer Kommunist von Pekings Gnaden. Und schon erhebt Japan, das seit seiner Niederlage von 1945 einen unerhörten Aufschwung genommen hat, seine Stimme, um gleichsam als Bruder und Erlöser sich den Vietnamesen anzubieten. Das Konzert der asiatischen Großmächte beginnt. Vielleicht wird dieses Konzert die Waffen zum Schweigen bringen. Es ist keine sehr schöne Chance, die dem Frieden hier geboten wird, aber auch diese Chance ist besser als die Fortsetzung eines Krieges, deY immer nur ein schmutziger sein kann.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung