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Bengalisches Licht in Vietnam

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Der Fluch von Vietnam, der die Vereinigten Staaten seit mehr als zehn Jahren verfolgt, ist trotz des physischen Rückzugs aus diesem Raum noch keineswegs gebrochen. Die Debatte hat sich jetzt neuerlich entzündet. Zur Frage steht, ob man dem am Rande des militärischen und physischen Zusammenbruchs torkelnden Kambodscha noch geringfügige finanzielle Hilfe zukommen lassen soll, um ein völliges Desaster temporär aufzuhalten, oder ob man die Augen schließen und, wie viele meinen, so die Leiden und Zerstörungen schnellstens beenden lassen soll. Denn niemand, auch nicht die Regierung, gibt sich der Illusion hin, daß 70 oder 100 Millionen Dollar, die vom Kongreß gefordert werden, eine Wende im militärischen Ablauf der Schlacht um Pnom Penh herbeiführen könnten. Aber es sei möglich — so meint die Regierung —, das Überleben der auf wenigen Enklaven zusammengepferchten nichtkommunistischen Streitkräfte um einige Wochen, bis zum Eintreten der Regenzeit, zu gewährleisten und damit Zeit für Verhandlungen zu gewinnen, die eine Machtübergabe ohne Blutbad anstreben sollen.

Die demokratische Opposition im Kongreß, die eigentlich eine massive Mehrheit darstellt, versucht dagegen, jegliche Hilfe abzuschneiden und desavouiert selbst eigene Mitglieder einer Delegation, die sich kürzlich an Ort und Stelle von den unvorstellbaren Verhältnissen und der kommunistischen Intransigenz überzeugen konnte. Es ist, als ob sie sich durch Kaltschnäuzigkeit von den eigenen Fehlern und Irrtümern der Vergangenheit purgieren wollte. Kambodscha? Was ist das noch, für Typen wie jene frisch gewählten 30jährigen Abgeordneten, die mit denen sympathisieren, die durch Verleugnung staatsbürgerlicher Verpflichtungen sich um die Verantwortung drückten, und die vermeinen, daß sie durch diese Einstellung den geschichtlichen Konsequenzen entkommen können.

Dominotheorie? Lächerliches konservatives Unken. Doch schon zeichnet sich die viel schwerer wiegende Niederlage ab: der Fall Saigons und des nichtkommunistischen Teiles Vietnams. Während Hanoi, mit Waffen und Material aus Moskau und Peking aufgepäppelt, eine Provinzhauptstadt nach der anderen überrennt, wird dem in Amerika nie sehr populären Präsidenten Thieu vom Kongreß die Zufuhr immer mehr gedrosselt. Wird also Kambodscha fallengelassen, so kann man sich das Ende Saigons mit dem Rechenschieber ausrechnen. Bei abnehmender amerikanischer Hilfe dürfte es 1976 soweit sein.

Nun kann man mit einiger Berechtigung sagen, daß diese Entwicklung bereits durch den Rückzug der amerikanischen Soldaten aus Süd Vietnam vorgezeichnet war; daß der „Pariser Vertrag“ nichts als ein das Gesicht wahrendes Intermezzo war, erzwungen durch den schlauen diplomatischen Schachzug der Anerkennung Pekings und die dadurch bedingte sowjetische Duldung der US-Bomben auf Hanoi und Haiphong. Nun hätte aber eine Weltmacht dieses Respiro, das ihr Kissingers diplomatisches Geschick und eine geradezu rhapsodische militärische Entschlossenheit geschenkt hatten, nützen müssen. Sie hätte ihre Position zumindest konsolidieren können. Verhältnismäßig geringfügige finanzielle Hilfe, verbunden mit einer positiven Einstellung zu den asiatischen Interessens-wahrern, wäre ein günstiges Investment gewesen, das sich vermutlich ä la longue bezahlt gemacht hätte. Statt dessen schwächte ein ständiges Hochspielen der in Asien unvermeidlichen Übergriffe der Macht durch Medien und kurzsichtige Politiker die nichtkommunistischen Regierungen in Saigon und Pnom Penh. (Als ob der Gral der Demokratie seinen Standort in Washington hätte!) Im Westen diskreditiert, materiell im Stich gelassen, genügt für diese westlichen Positionen ein geringfügiger Stoß, um sie zum Einsturz zu bringen.

Nun glauben wohl die Regierungsgegner, daß mit Lon-Nol und Thieu der ganze asiatische Spuk ins Grab steigen werde. In Kürze wird jedoch auch der Dümmste erkennen, wie falsch solche Spekulationen sind. Die Niederlagen von Pnom Penh, und bald auch von Saigon, werden sich an allen Nahtstellen der Inter-essenssphäre fühlbar machen. Denn jede Schwäche, jedes Zurückweichen kostet Territorium, Geld, oder beides. Politische Schwäche wird mit hohen Benzinpreisen bezahlt, oder sie kostet Israel Territorium zugunsten eines neu zu gründenden palästinensischen Staates. Sie kostet heute Portugal, morgen vielleicht schon Italien, Spanien oder Griechenland. Mit innenpolitischen Scheuklappen verbaut, sieht die Mehrheit im Kongreß die Zusammenhänge nicht. Gewählt wird man ja schließlich in Ohio, Connecticut oder Washington, und nicht in Lissabon oder Madrid. Fords und Kissingers Warnungen fallen auf unfruchtbaren Boden, Aber plötzlich könnte sich die Kulisse „bengalisch“ (für Vietnam) erleuchten. Die zur Schau gestellte Schwäche wird zur Aufforderung an jedermann, sein Glück zu versuchen. Selbst die sogenannten „Gemäßigten“, wie Sadat, der Schah und die Wüstenscheichs,haben ihr Glück versucht und haben dabei blendend abgeschnitten. Hinter den Gemäßigten warten aber bereits Radikalere: Syrien, Libyen, Algerien werden von radikalen Politikern geführt, und der Führer der Palästinenser, Arafat, motiviert seine Morde mit Kriegshandlungen gegen Israel.

Was aber, wenn der Ruf in den USA erschallen sollte, Israel zu helfen? Wird es nicht viele, vielleicht eine Mehrheit geben, die sich sagen könnte: Was schert mich die „Demokratie in der Wüste“, ich habe weit besser Verlangen — nämlich meine eigene Energieversorgung. Dann würden sich das Pharisäertum und die bereits zur Routine gewordene Unverläßlichkeit gegenüber Freunden und Alliierten in der Formel kondensieren: Für Vietnam opfern? Lächerlich! Und warum eigentlich auch für Israel?

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