Am Bürosessel fehlt der Warnhinweis

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Der Feldzug gegen das Rauchen bringt nun auch Schockbilder auf Tabakprodukte. Doch es gibt andere Gesundheitsrisiken, die noch weitaus weniger beachtet werden: Immer mehr Studien zeigen die schädlichen Effekte exzessiven Sitzens.

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Der Feldzug gegen das Rauchen bringt nun auch Schockbilder auf Tabakprodukte. Doch es gibt andere Gesundheitsrisiken, die noch weitaus weniger beachtet werden: Immer mehr Studien zeigen die schädlichen Effekte exzessiven Sitzens.

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Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, wie viele Stunden Sie heute gesessen sind? Zugegeben, das ist nicht üblich. Aber wirft man einen Blick in die medizinische Literatur, ist das Ausmaß der gesessenen Stunden pro Tag ein Indikator für ein Gesundheitsrisiko. Und zwar ein ernstzunehmender, so wie Rauchen, allzu üppiges Essen oder unregelmäßiger Schlaf. Allein das gesellschaftliche Bewusstsein dafür ist noch kaum vorhanden. Lange Arbeitszeiten werden in unserer Gesellschaft eher hochgehalten. Und bedenkt man, wie viele Menschen jede Woche 40 Stunden oder mehr auf einen Computer-Bildschirm starren, könnte diese Erkenntnis tatsächlich einigen Sprengstoff bergen.

"Steinzeit in den Knochen"

Man muss nicht unbedingt die Meinung mancher Wissenschafter und Sportanimateure teilen, wonach der Mensch eigentlich ein "Lauftier" ist, in dessen genetischem Code das Jagen durch die Savanne abgespeichert ist. Aber dass der menschliche Körper nicht für lange Sitzperioden geschaffen ist, lässt sich im Blick auf die Evolutions- und Menschheitsentwicklung leicht nachvollziehen. "Die Steinzeit steckt uns in den Knochen" lautete der Titel eines vie beachteten Wissenschaftsbuches von Thilo Span, Detlev Ganten und Thomas Deichmann (Piper Verlag 2009). Darin werden zahlreiche Zivilisationskrankheiten auf unser biologisches Erbe zurückgeführt: Dieses wurde in einer Zeit geprägt, als der Mensch täglich viele Stunden körperlich aktiv sein musste, als Jäger und Sammler, aber auch später auf dem Feld und in der Landwirtschaft. Heute ist der menschliche Körper chronisch unterfordert, so der Befund der Evolutionsmedizin. Bürojobs sowie eine sitzende Lebensweise führen aufgrund unseres biologischen Programms zu massiven Nebenwirkungen. Denn die Evolution hat mit der rasanten zivilisatorischen Entwicklung nicht Schritt halten können.

Das Ausmaß dieses Kollateralschadens wird nun immer besser erfasst: Mangel an körperlicher Bewegung wird heute für sechs bis neun Prozent aller Todesfälle weltweit verantwortlich gemacht. In diesem Zusammenhang zeigen immer mehr Studien, dass übermäßiges Sitzen unser Leben verkürzt und unsere Gesundheit gefährdet: nicht nur die Bandscheiben, das Muskelund Gelenksystem, sondern auch den Blutkreislauf, das Herz, den Zucker- und Insulinstoffwechsel. Ein "sitzender Lebensstil" kann die Entwicklung von Diabetes und manchen Krebserkrankungen begünstigen.

Erhöhtes Krebsrisiko

Dies hat vor zwei Jahren eine große Meta-Analyse der Universität Regensburg belegt: Menschen, die viel sitzen, erkranken deutlich häufiger an Lungenkrebs und Gebärmutterkrebs. Das Bemerkenswerte daran: Ob die untersuchten Personen Sport machten oder nicht, spielte keine Rolle. Körperliche Aktivität hatte hier - wie in vielen anderen Studien - keinen Einfluss auf die dokumentierte Risikosteigerung durch das Sitzen. Einige andere Forschungsarbeiten liefern Hinweise, dass das entsprechende Risiko durch körperliche Betätigung immerhin abgeschwächt werden kann.

Ein weiterer Nachweis für diesen schädlichen "Sessel-Effekt" stammt nun von einer internationalen Forschungsgruppe, die ihre Resultate soeben im "American Journal of Preventive Medicine" veröffentlicht hat. Die Studienautoren haben 54 Länder rund um den Globus rückblickend unter die Lupe genommen: Mehr als 60 Prozent der untersuchten Bevölkerung saß täglich mehr als drei Stunden; die durchschnittliche Sitzzeit lag bei 4,7 Stunden pro Tag. Rund vier Prozent aller Todesfälle waren dabei auf mehr als dreistündiges Sitzen pro Tag zurückzuführen.

"Es ist wichtig, das Sitzverhalten zu minimieren, um vorzeitige Todesfälle in allen Teilen der Welt zu verhindern", resümierte Studienautor Leandro Rezende von der Universität Sao Paulo in Brasilien. Die höchsten Sterblichkeitsraten bedingt durch das Sitzen fanden sich im Libanon (11,6 Prozent) und in den Niederlanden (7,6 Prozent), die niedrigsten in Myanmar (1,3 Prozent) und Mexiko (0,6 Prozent). Dass die Sterblichkeit mit zunehmender Sitzzeit ansteigt, wurde bereits früher dokumentiert. Auch beim Sitzen gilt somit: Die Dosis macht das Gift.

"Ist Sitzen das neue Rauchen?", fragte die Süddeutsche Zeitung vor einem Jahr. Es mag jedenfalls leichter erscheinen, dem Rauchen abzuschwören als einen berufsbedingt sitzenden Lebensstil umzukrempeln. Was aber empfehlen Experten angesichts dieser Situation? Mehr Bewegung, idealerweise nicht nur anschließend an das Sitzen, sondern anstelle des Sitzens. Bereits mit einer geringen Reduktion der Sitzzeit um eine halbe Stunde pro Tag sei eine unmittelbare Senkung der Sterblichkeit um 0,6 Prozent zu erreichen, rechnen die Autoren der aktuellen Studie vor.

Kleine Bewegungen im Alltag

Das Ersatzprogramm muss noch lange kein "Sport" - für manche ein abschreckendes Wort - sein: Auch kleine Interventionen wie ein bisschen Gehen, Radfahren oder Stiegen-Steigen gelten als hilfreich. Oder im Büro Aufstehen und ein paar Tätigkeiten im Stehen Verrichten. Jedenfalls ist davon abzuraten, länger als eine Stunde ununterbrochen zu sitzen. Beim Sitzen selbst ist es ratsam, die Haltung öfter zu verändern: etwa am Sessel hin und her rutschen, auf die Arme stützen, im Stuhl lümmeln oder sich kerzengerade aufrichten. Auch dynamische, ergonomische Sitzmöbel werden empfohlen. Auf die Abwechslung kommt es an: Wer allzu bewegungslos rastet, der rostet bekanntlich.

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