Die versessene Gesellschaft

Werbung
Werbung
Werbung

Was viele Menschen oft hemmt, ist der Irrglaube, Bewegung und Sport müssten 'institutionalisiert' und stets 'leistungsorientiert' sein. Dadurch entkoppeln wir diese Dinge vom Alltag (S. Macek)

Wie konnte es nur soweit kommen? Wie ist es passiert, dass eine evolutionäre Leistung der Wirbeltiere heute so schief angesehen wird? Dass aus einer kulturellen Errungenschaft der Menschheit ein grassierendes Übel, eine Art schädliches Suchtmittel geworden ist? Dass eine prinzipiell würdevolle Körperhaltung, die erwiesenermaßen zu geistigen Höchstleistungen befähigt, neuerdings im Verdacht steht, schwere Krankheiten zu begünstigen und unsere Lebenszeit zu verkürzen? Die Rede ist vom Sitzen - eine Gewohnheit, die heute so exzessiv praktiziert wird, dass Ärzte und Forscher bereits Alarm schlagen. Jüngere Studien haben seine Schattenseiten zunehmend ans Licht gebracht. Ob seiner Gesundheitsgefahren sehen manche im Sitzen gar das "neue Rauchen". Doch ein Sitzverbot in der Gastronomie wird, nicht nur in Österreich, schwer umzusetzen sein.

Sich dieser Gewohnheit zu entziehen, ist gar nicht so leicht: Menschen in der westlichen industrialisierten Welt sitzen täglich auf schätzungsweise 20 stuhlartigen Gebilden: am Arbeitsplatz, Küchen- oder Esstisch, auf dem Sofa, in Auto, Bus oder Bahn, im Restaurant, Kino oder Theater. 50 bis 70 Prozent des Tages verbringen sie auf dem Hinterteil -Tendenz steigend. "Wir sitzen versessen bis zur Bewegungslosigkeit", konstatiert der deutsche Historiker Hajo Eickhoff, der sich mit der Kulturgeschichte des Sitzens befasst. "Das gesetzte Ziel scheint die vollkommene Sedierung. Unsere Gesellschaft ist eine Institution des Stuhls, die den Menschen systematisch zu einem Stuhlwesen formt."

Steigende Arthrose-Zahlen

Tatsächlich stammt das deutsche Wort "sitzen" vom lateinischen "sedere", das auch "besänftigen" bedeutet. Und dass mit dem Sitzen eben auch Beruhigung und Disziplinierung gemeint ist, erfährt der Mensch schon als Kleinkind, das meist schon früh vom Fußboden auf den Gesäßboden gehoben wird. Das Kind, das in wenigen Jahren die Evolution der Wirbeltiere wiederholt, wird auf das Sitzen eingeschworen. Denn ein "vielseitig bewegter Mensch wie der Zappel-Philipp", dem Inbegriff für die frühen Schwierigkeiten des Sitzens, "dient in der Sitzgesellschaft nur als negatives Vorbild", wie Eickhoff bemerkt. "Sie verordnet dem bewegungsbedürftigen Kind das unbewegte Verharren auf dem Stuhl."

Und auch wenn es in der Jugend viel Raum für Sport und Bewegung gibt: Mit dem Eintritt in die Arbeitswelt wird es oft schwierig, ein gesundheitsförderndes Ausmaß an körperlicher Betätigung aufrecht zu erhalten. Denn der Großteil der Jobs wird im Sitzen absolviert, und gerade Menschen mit langen Arbeitszeiten setzen ihre Gesundheit durch chronischen Bewegungsmangel aufs Spiel. Studien zeigen, dass übermäßiges Sitzen das Risiko eines vorzeitigen Todes erhöht und anfälliger für verschiedenste Erkrankungen macht: Das betrifft etwa Typ-2- Diabetes, Herz-Kreislauf- oder manche Krebserkrankungen. Und natürlich den Bewegungsapparat: Dass sich die Zahl der Knie-Arthrosen seit Mitte des 20. Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat, geht aus einer rezenten US-Studie im Fachjournal PNAS hervor. Auch in jüngster Zeit beobachten Orthopäden, dass mehr Patienten mit Gelenkverschleiß vorstellig werden. Arthrose ist die weltweit häufigste Gelenkerkrankung, bei der sich das Knorpelgerüst der Gelenke irreversibel zurückbildet. In Österreich sind rund 1,4 Millionen Menschen davon betroffen.

Die Unterbeanspruchung der Gelenke ist wohl eine der Ursachen für den steilen Anstieg der Krankheitsfälle. Denn der Knorpel wird nicht durch Blutgefäße, sondern nur passiv durch Gelenkflüssigkeit versorgt und braucht daher regelmäßige Bewegung, um Nährstoffe zu erhalten. Wer rastet, der rostet; wer sich bewegt, schmiert und füttert die Gelenke. Nicht nur zur Vorbeugung, auch bei vorhandener Arthrose kann maßvolle Bewegung helfen, das Fortschreiten der Erkrankung zu verlangsamen.

Sitzpausen etablieren

Der schädliche Effekt exzessiven Sitzens zeigt sich übrigens unabhängig von der körperlichen Aktivität. Mit anderen Worten: Es ist nicht davon auszugehen, dass viel Sitzen durch viel Bewegung kompensiert werden kann. Vielmehr sollte auch das Sitzverhalten reduziert werden. Experten empfehlen, lange Sitzperioden so oft wie möglich zu unterbrechen, die Mittagspause für Bewegung zu nutzen und Bürotätigkeiten wie Lesen oder Telefonieren öfter einmal im Stehen auszuführen, Aufzüge und Rolltreppen zu meiden und generell viel zu Fuß zu gehen -etwa abends noch einen kleinen Spaziergang einzustreuen, statt auf der Couch vor dem Fernseher zu versinken. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, jeden Tag 10.000 Schritte zu gehen.

"Der Mensch ist nicht zum Sitzen geschaffen. Wie in vielen anderen Lebensbereichen haben wir uns auch in puncto Bewegung weit von jenem Verhalten entfernt, das uns im Laufe der Evolution geprägt und erfolgreich gemacht hat", erläuterte der Bewegungs-und Ernährungscoach Stefan Macek kürzlich bei einem Vortrag in der Goldenes Kreuz-Privatklinik in Wien. Es gehe darum, wieder mehr Bewegung in das tägliche Leben zu integrieren. "Was viele oft hemmt, ist der Irrglaube, Bewegung und Sport müssten 'institutionalisiert' und stets 'leistungsorientiert' sein. Dadurch entkoppeln wir diese Dinge von unserem Alltag und erhöhen massiv den scheinbar notwendigen Zeitaufwand und Ergebnisdruck", so Macek. Doch weniger ist oft mehr, weil nachhaltiger.

Auch im Sitzen gibt es Hierarchien, von den harten Werkstatthockern bis zum gut gepolsterten Chef-Sessel. Kulturgeschichtlich an oberster Stelle finden sich ehrwürdige (Sitz-)Positionen wie die Lehrstühle, Richter- oder Bischofsstühle, der Königsthron oder Heilige Stuhl. Heute scheint es höchste Zeit, endlich aufzustehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung