Unsere negativen ABSTINENZRITEN

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Hedonistisch, aber auch leistungsfixiert und übereifrig im Kampf gegen Gesundheitsrisken aller Art: Wie halten wir es nun mit dem Rausch? Philosoph Robert Pfaller über die kleine Gretchenfrage der heutigen Gesellschaft.

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Hedonistisch, aber auch leistungsfixiert und übereifrig im Kampf gegen Gesundheitsrisken aller Art: Wie halten wir es nun mit dem Rausch? Philosoph Robert Pfaller über die kleine Gretchenfrage der heutigen Gesellschaft.

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Unsere Kultur hat ein Problem mit dem Genuss, so eine zentrale These von Robert Pfaller. Daran anknüpfend bat die FURCHE den Philosophieprofessor an der Wiener Universität für angewandte Kunst zum Gespräch über die gesellschaftliche Ambivalenz des Rausches.

DIE FURCHE: Herr Professor Pfaller, Sie haben viel über Genuss und Genussfeindlichkeit reflektiert. Wie sehen Sie das Verhältnis von Rausch und Genuss?

Robert Pfaller: Der Rausch ist eine der erheblicheren Genussmöglichkeiten, die uns im Leben offenstehen. Der Kulturtheoretiker Roger Caillois hat im Rausch eine Form des Spiels erkannt. Die zunehmende Beliebtheit von "Rauschspielen" lässt sich in Vergnügungsparks beobachten, in denen Hochschaubahnen, Schaukeln und was sonst noch die vertilgte Zuckerwatte wieder zum Vorschein bringen kann, die älteren Wettkampfund Geschicklichkeitsspiele, all die altmodischen Ballwurf-, Schießbuden- und Autodrom-Etablissements, immer mehr ablösen. Nach der kühnen These aus Johan Huizingas Buch "homo ludens" ist das Spiel das Grundprinzip aller Kultur - und somit auch all dessen, was das Leben lohnend und genussvoll macht. Damit der Rausch ein Genuss bleibt, muss er wohl ein Element jenes "als ob" mit sich führen, wie es für das Spiel konstitutiv ist. Zum Beispiel beim Feiern und Tanzen, als ob es kein Morgen gäbe -obwohl ich genau weiß, dass ich das alles nur heute tun kann, weil morgen ein Feiertag ist.

DIE FURCHE: Sigmund Freud betrachtete Rauschmittel als Stoffe, deren "Anwesenheit in Blut und Geweben" dem Menschen unmittelbare Lustempfindungen verschafft. Was liegt Ihrer Ansicht nach hinter der wiederkehrenden menschlichen Sehnsucht nach dem Rausch?

Pfaller: Der Rausch erspart uns laut Freud einiges an Aufwand, wie ihn die Realitätsanforderungen mit sich bringen: unbequeme Tatsachen, Anstrengungen, Schmerzen etc. Das Bedürfnis nach dem Rausch scheint sich aus seiner Natur als Unterbrechung gegenüber unserem alltäglichen Funktionieren zu ergeben. Wenn wir funktionieren und der Erhaltung unseres Lebens dienen, schreibt Georges Bataille, dann sind wir in gewisser Weise servil. Souverän hingegen, sozusagen auf Augenhöhe mit dem Leben, sind wir dann, wenn wir dieses Funktionieren unterbrechen und zum Leben gleichsam sagen: "Die ganze Woche habe ich für dich geschuftet; jetzt zeig mir mal, was du mir zu bieten hast."

DIE FURCHE: Worauf gründet andererseits die Rauschfeindlichkeit mancher Epochen und Kulturen?

Pfaller: Der Religionssoziologe Emile Durkheim unterscheidet zwischen "positiven" und "negativen Kulten". Es kann zu einem religiösen Ritual gehören, dass man etwas gemeinsam verzehrt oder trinkt, wohingegen es in einer anderen Religion oder sogar in einer späteren Phase derselben Religion vorgeschrieben ist, diese Sache eben niemals einzunehmen. Freud hat hier auf die Parallele zu Erscheinungsformen der Zwangsneurose hingewiesen, wo ebenfalls "positive" Zwangshandlungen plötzlich durch "negative" Abstinenzriten ersetzt werden können. Sehr allgemein könnte man sagen: Positive Kulte sind gesellig und bringen Lust. Negative Kulte dagegen befördern Vereinzelung. Je mehr Gesellschaften sich entsolidarisieren, desto mehr scheinen sie bestrebt, positive Kulte durch negative zu ersetzen. Unsere Kultur scheint mir gerade einen solchen "Reformschub" durchzumachen. Die zu beobachtende zunehmende Verfemung von Tabakkultur , Pelz, Parfüm , fettem Essen etc. sowie der damit verbundenen "Kulte" lese ich darum als ein Symptom gesellschaftlicher Entsolidarisierung.

DIE FURCHE: Ist das auch auf den Rausch übertragbar?

Pfaller: Genau in dem Maß, in dem das Arbeiten sich nach allen Richtungen hin entgrenzt - nicht nur, weil man jetzt überall und ständig arbeiten kann, sondern auch weil viele kaum mehr Arbeit haben -, genau so scheinen die Unterbrechungen der Arbeit, zum Beispiel durch Riten des Rausches, der Verfemung zu verfallen. Bezeichnend ist, dass in solch arbeitswütigem Ambiente das Feiern, Trinken oder auch Koksen oft schon Teil des nicht enden wollenden Arbeitsalltags ist. Damit verliert der Rausch seine rituelle Form und seine Funktion als Unterbrechung. Das ist eine der Voraussetzungen dafür, dass die Rauschmittel zu Suchtmitteln werden. Übrigens wird so auch die Arbeit selbst zum Suchtmittel. Und wenn die Arbeit grenzenlos wird und nicht nur unsere Disziplin, sondern unsere gesamte Kreativität und Hingabe fordert, werden wir nicht selbstverwirklicht und souverän, sondern eher totale Arbeitssklaven.

DIE FURCHE: Um 1968 erlangten alternative Rauschformen in der jugendkulturellen Protestbewegung eine subversive Funktion. Was ist aus dem Erbe der 68er geworden?

Pfaller: Der Umstand, dass ein großer Teil der 68er-Drogenmode auf Experimente der US-Armee zurückgeht, die davon träumte, ihre Feinde unter LSD zu setzen, stutzt wohl die emanzipatorischen Hoffnungen ein wenig zusammen, die damals manche mit ihrem Drogengebrauch verbunden haben mögen. Heute fällt auf, dass es oft dieselben Leute sind, die sich für die Freigabe "weicher" Drogen sowie für totale Rauchverbote einsetzen. Das "antiautoritäre" Moment, das mit den 68er-Drogen verbunden wurde, scheint Leute zu formen, die teils sehr wenig erwachsen und sehr autoritätshörig sind.

DIE FURCHE: Studien beschreiben den hohen Anteil von Alkohol-und Drogenthemen als roten Faden in der Geschichte der Pop-Musik. Was verraten uns die PopKulturen über die Bedeutung des Rausches?

Pfaller: Mit Nietzsche könnte man sagen, dass um 1968 eine grundlegende Veränderung der Massenkultur stattgefunden hat: weg vom bislang vorherrschenden "apollinischen" Prinzip des Bildes und der Literatur, hin zur Vorherrschaft der Musik und des "dionysischen" Prinzips des Rausches. Freilich ist genau dadurch auch die Musik selbst viel dionysischer geworden, etwa als Rockmusik. Das ganze Leben bekommt etwas Rauschhaftes, wenn Leute in zunehmendem Maß und egal, wo sie sich befinden, laute Musik hören. Auch die Verbreitung des Fernsehens und anderer Medien, in denen, wie Marshall McLuhan feststellt, das Medium selbst die Botschaft ist, wirkt in diesem Sinn berauschend. Denn detailreichere, sperrigere Inhalte lassen sich da gar nicht mehr kommunizieren.

DIE FURCHE: Der Neurophilosoph Thomas Metzinger geht davon aus, dass wir unser Bewusstsein durch technologischen Fortschritt künftig viel feiner modulieren werden können als durch Alkohol, Fernsehen etc. Wie ist Ihr Ausblick auf die "Rauschtechniken" der Zukunft?

Pfaller: Ob und in welchem Maß Rauschmittel zu massenhafter Beliebtheit finden, hängt nicht nur von den verfügbaren Mitteln und technischen Möglichkeiten ab, sondern vor allem auch davon, ob die mit dem jeweiligen Stoff verbundenen Glücksversprechen in der Gesellschaft geschätzt werden oder nicht. Viele einst berüchtigte Drogen wie etwa der Absinth sind heute zwar durchaus noch vorhanden, werden aber nur noch von Gourmets oder pharmakologischen Oldtimer-Fans kultiviert. Es könnte darum auch sein, dass wir in Zukunft noch viel abstinenter werden, als wir es uns heute träumen lassen, und dass wir alle unsere technischen Manipulationsmöglichkeiten vorwiegend zur Effizienzsteigerung benutzen.

DIE FURCHE: Ist gegen den Alkohol künftig ein ähnlicher Feldzug wie derzeit gegen das Rauchen vorstellbar, oder bleibt der Alkohol als prägendes Rausch- und Genussmittel unserer Kultur unangetastet?

Pfaller: Den Alkohol umgibt in Europa, zum Beispiel was führende Politiker betrifft, derzeit noch ein höflicher Schleier des Schweigens - ähnlich wie früher die Liebschaften der französischen Präsidenten. Da die kulturelle Hegemonie der USA aber zunehmend zu einer Bekenntnis- und Geständniskultur führt, wie sie Michel Foucault hellsichtig beschrieben hat, könnte sich auch hier eine Veränderung ergeben. Es werden dann immer mehr Leute, schon bei geringen Alkoholmengen, als süchtig angesehen werden, und der Druck zum Geständnis wird stärker werden. Verschärfend könnte die Feindseligkeit gegen andere Genussmittel hinzukommen. Die zu beobachtende Verfemung unserer Glücksmöglichkeiten wird wohl auch um den Alkohol keinen Bogen machen.

DIE FURCHE: Wie könnte eine vernünftige Politik der Rausch- und Genussmittel aussehen?

Pfaller: Zunächst sollte die Politik erwachsene Menschen auch als erwachsene Menschen behandeln. Sie zum Beispiel mit Schockbildern auf Weinflaschen oder Zigarettenpackungen vor der Leberzirrhose oder dem Lungenkrebs zu warnen, ist lächerlich und unwürdig. Und natürlich muss die Politik andererseits den Kranken und Süchtigen helfen. Aber das ist nicht zu schaffen, indem man nur die Suchtmittel verfemt oder den Zugang dazu erschwert. Denn wie aus der Suchtforschung bekannt ist, lassen sich Süchte leicht von einem Objekt auf ein anderes verlagern. Sogar auf Selbsthilfegruppen kann man süchtig werden -ganz zu schweigen von den neuen Formen der Sucht wie Arbeitssucht, Aufmerksamkeits-Defizitsyndrom - in Wahrheit ja Aufmerksamkeitssucht -, Hyperaktivität, Hyperkonnektivität - also dauernd online sein zu müssen -, Selbstperfektionierungssucht etc. Eine entscheidende Suchtbedingung ist heute mangelnde Existenzsicherheit. Es sind vor allem die Verzweifelten und Übergestressten, die süchtig trinken und spielen. Und es sind die vom unsinnigen, Bolognabedingten Prüfungsund Karrierestress überforderten Studierenden, die mittlerweile massenhaft aufmerksamkeitssteigernde Drogen wie Ritalin nehmen. Wenn die Menschen nicht ständig um ihre Jobs, ihre Karrieren und ihre Existenz zittern müssten, wären sie auch bedeutend weniger suchtgefährdet. Gesundheitspolitik ist darum zuallererst Sozialpolitik.

DIE FURCHE: Wie lässt sich das Risikopotenzial des Rausches am besten eindämmen?

Pfaller: Das Ritual ermöglicht den Rausch und die mit ihm verbundene Voraussetzung der Geselligkeit. Denn alleine wollen viele gar nicht trinken, ja oft nicht einmal essen. Aber es begrenzt den Rausch auch - und damit seine Gefahr. Denn das Ritual setzt räumliche und zeitliche Grenzen. Wirklich gefährlich hingegen wird es vor allem dann, wenn die mit dem Gebrauch von suchtgefährdenden Substanzen verbundenen Rituale ihre Unterbrechungsfunktion gegenüber dem Arbeitsleben verlieren. Denn wenn das rituelle Unterbrechen scheitert, muss der Versuch des Unterbrechens fortwährend wiederholt werden. Dann wird beim Arbeiten selbst geraucht, getrunken oder gekokst, ohne jede Zäsur. Wenn wir den Menschen aber ihre Pausen und Feiertage zugestehen und die Arbeit nicht selbst zur Droge machen, können sie auch mit den anderen Drogen meist einigermaßen gut umgehen.

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