Die schlaflose Elite

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Top-Manager und Wirtschaftskapitäne wollen den Beschäftigten weismachen, dass weniger Schlaf zu mehr Produktivität führe. Allerdings: Studien belegen wenig überraschend genau das Gegenteil.

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Top-Manager und Wirtschaftskapitäne wollen den Beschäftigten weismachen, dass weniger Schlaf zu mehr Produktivität führe. Allerdings: Studien belegen wenig überraschend genau das Gegenteil.

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Tim Cook ist ein Frühaufsteher. Der Apple-Chef, schrieb das Magazin Time in einem Porträt, stehe jeden Morgen um 3.45 Uhr auf. Zuerst beantwortet er eine Stunde Mails, von denen er täglich zwischen 700 und 800 erhält, dann geht er ins Fitness-Studio und schließlich ins Büro. Bei Fiat-Chrysler-CEO Sergio Marchionne klingelte der Wecker bereits um 3.30 Uhr, Pepsi-Chefin Indra Nooyi beginnt ihren Tag schon um vier Uhr morgens. Auch US-Präsident Donald Trump ist ein Frühaufsteher: Während die meisten noch im Bett liegen, feuert er seine Twitter-Salven in die Welt -und verschafft sich damit einen Handlungsvorsprung.

Trump kommt nach eigenen Angaben mit vier Stunden Schlaf aus. Auch sein Amtskollege, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron, der nachts um zwei Uhr noch SMS an seine Berater verschickt, benötigt lediglich vier Stunden Schlaf. Von Napoleon Bonaparte stammt das Bonmot: "Vier Stunden schläft der Mann, fünf die Frau, sechs ein Idiot."

"Kurzschlaf-Gen" und die Karriereleiter

Das "Wall Street Journal" prägte 2011 den Begriff der "schlaflosen Elite" (Sleepless Elite), jene ein bis drei Prozent der Bevölkerung, die mit einem Kurzschlaf-Gen ausgestattet seien und dank eines schnellen Stoffwechsels physische und psychische Belastungen leichter wegsteckten als andere - und daher ganz oben auf der Karriereleiter stünden. Unternehmensberater und Investmentbanker, deren rastloser und fiebriger Berufsalltag in der ZDF-Serie "Bad Banks" recht realitätsnah dargestellt wurde, arbeiten nicht selten nächtelang durch, nicht nur, um ein Projekt zu finalisieren,

sondern um dem anderen Team die eigene Fitness und körperliche Robustheit zu demonstrieren. Die schaflose Elite will mit ihrem zur Schau getragenen geringen Schlafbedürfnis den Konkurrenten signalisieren: Seht her, wir brauchen keine Ruhepausen, wir sind hochleistungsfähig! Während ihr schlaft, arbeiten wir hart! Die unterschwellige Botschaft lautet: Schlaf ist etwas für Schwache.

Der amerikanische Essayist Jonathan Crary beschreibt in seinem Buch "24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus", wie mit der Industrialisierung und Urbanisierung die Nachtruhe immer mehr beschnitten wurde. Mit dem Aufkommen der kontinuierlichen Produktion und des Schichtbetriebs wurde Nacharbeit zum Normalfall, dank Globalisierung und Outsourcing von Callcentern in andere Zeitzonen sind Hotlines 24/7 verfügbar. In den USA, wo es kein Ladenschlussgesetz gibt, haben Geschäfte rund um die Uhr geöffnet. New York gilt als Stadt, die niemals schläft. Der Schlaf ist in der Logik des Kapitalismus etwas Unproduktives, ein Stillstand, in dem das Humankapital nicht zur Verfügung steht. Aus dem Schlaf lasse sich nichts Verwertbares herausholen. "Der Schlaf in seiner tiefen Nutzlosigkeit und Passivität", schreibt Crary, "mit den von ihm verursachten, unkalkulierbaren Verlusten in der Zeit der Produktion, Zirkulation und Konsumtion, wird mit den Ansprüchen einer 24/7-Welt stets kollidieren." Der Kapitalismus, im Speziellen die Aufmerksamkeitsökonomie, versuche daher, immer mehr vom Schlaf abzuknabbern. Nicht der Kapitalismus hat sich dem Biorhythmus angepasst, sondern die menschliche Uhr der Taktung des Kapitalismus.

Milliardenkosten durch Schlafmangel

Schlaf wird in bestimmen sozialen Milieus zu einem Distinktionsmerkmal, mit dem man sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen kann -wer weniger schläft, ist produktiver und wertiger. Andererseits wird er einer ständigen Optimierung zugeführt. Google richtet in seinen Hauptquartieren Schlafkapseln ein, damit ermattete Programmierer beim Power-Nap Kraft tanken und neue Ideen schöpfen können. Smarte, mit Sensoren und Technik vollgestopfte Betten überwachen das Schlafverhalten und justieren das Kopfstück um ein paar Grad, wenn die Person schnarcht. Mit Fitness-Trackern lässt sich zudem die Schlafqualität messen. Durch die Digitalisierung wird der Schlaf zu einer Metrik.

Der amerikanische Fitnessbandhersteller Jawbone hat in einer Statistik aufgeschlüsselt , in welcher Stadt die Menschen im Durchschnitt am spätesten ins Bett gehen (Moskau, 0.46 Uhr), am wenigsten schlafen (Tokio, im Durschnitt 5 Stunden und 44 Minuten) und am spätesten aufstehen (Moskau, im Durchschnitt um 8.08 Uhr). In den Daten schwingt auch ein kulturalistisches Vorurteil mit: Russen stehen spät auf, die Japaner schlafen zu wenig.

Laut einer repräsentativen Gallup-Umfrage ist die durchschnittliche Schlafzeit in den USA von 7,9 Stunden am Tag im Jahr 1942 auf 6,8 Stunden 2013 zurückgegangen. Schliefen 1942 noch 84 Prozent der Bevölkerung sieben Stunden oder mehr am Tag - ein von Medizinern empfohlener Wert - sind dies 2013 nur noch 59 Prozent. Die USA sind eine unausgeschlafene Nation. Und das hat Folgen: gesundheitliche, ökonomische und vielleicht sogar politische.

Die amerikanische Denkfabrik Rand Corporation ist in einer Studie zu dem Ergebnis gekommen, dass Schlafmangel erhebliche wirtschaftliche Kosten verursacht. Allein in den USA beläuft sich der Schaden auf 411 Milliarden US-Dollar im Jahr. Das sind 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts oder, in Arbeitszeit umgerechnet, 1,2 Millionen Arbeitstage. Auch in anderen OECD-Staaten wie Deutschland, Großbritannien und Kanada resultiert mangelnder Schlaf in Kosten in zweistelliger Milliardenhöhe. Die Industrienation Japan, wo die Arbeitsbelastung im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch ist und viele Männer sich aus falsch verstandenem Ehrgeiz zu Tode schuften, kostet Schlafentzug im Jahr 138 Milliarden Dollar. Der Grund: Arbeitnehmer, die zu wenig schlafen, haben ein erhöhtes Risiko für Übergewicht, Diabetes und Infektionen, weil die Immunabwehr geschwächt ist. Zudem sinkt die Konzentration und damit die Produktivität. "Zu wenig Schlaf macht dick, dumm und krank", brachte es der Schlafforscher Jürgen Zulley prägnant auf eine Formel. Wer weniger schläft, ist häufiger krank, hat mehr Fehlzeiten und ist damit weniger produktiv.

Kognitives und physisches Klärwerk

Die britische Volkswirtschaft hat in dieser Dekade das geringste Produktivitätswachstum seit 1820 verzeichnet. Das könnte auch im Schlafmangel begründet liegen, sagen Wirtschaftsexperten. Die Financial Times titelte: "Großbritanniens Produktivitätsproblem beginnt im Schlafzimmer." Inzwischen ist auch in der City die Erkenntnis gereift, dass weniger Schlaf nicht zu mehr Produktivität führt. 2013 sorgte der Fall eines deutschen Praktikanten bei Merrill Lynch für Aufsehen, der, nachdem er drei Nächte lang bis morgens um 6 Uhr durchgearbeitet hatte, tot in seiner Dusche zusammenbrach. Das Missverständnis ist, dass Schlaf mit dem Kapitalismus nicht kompatibel sei. Der Schlaf als kognitives und physisches Klärwerk des Menschen ist dabei sehr wohl produktiv, indem er die Akkus der Arbeitnehmer wieder auflädt. Wer mehr schläft, ist am Ende produktiver -und gesünder.

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