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Eine kulturhistorische Spurensuche.

Was der Großstädter Stille nennt, das ist ein Gemisch aller möglichen Geräusche, an das er sich so gewöhnt hat, daß er es gar nicht mehr hört, welches also Stille für ihn ist." Derart apodiktische Worte verkündete der Dramaturg und spätere Direktor des Wiener Burgtheaters Alfred Freiherr von Berger im Jahre 1909. Eine richtige Stille sei, diagnostizierte er weiter, inzwischen so gut wie unbekannt, ja man brauche oft sogar einen gewissen Geräuschpegel, um sich wohl zu fühlen.

Wenngleich es wohl zu keiner Zeit eine "absolute" Stille gab und diese vielmehr - wie schon der Tonpsychologe Carl Stumpf nachwies - ein relatives Phänomen darstellt, das in besonderem Maße von der ortsüblichen Geräuschkulisse und den damit in Zusammenhang stehenden Hörgewohnheiten abhängt, so war der Trend doch eindeutig: Industrialisierung und Urbanisierung ließen Stille im Laufe des 19. Jahrhunderts immer mehr zur kostbaren Rarität werden.

Ihr akustisches Gegenbild, der "Lärm", geriet zur Signatur der Moderne. Er begann alle Lebensbereiche zu durchdringen, vom Wohnalltag über den öffentlichen Raum bis hin zur Arbeitswelt. "Kein Zeitalter seit Erschaffung der Welt hat soviel und so ungeheuerlichen Lärm gemacht wie das unsrige", empörte sich 1879 die weitgereiste Journalistin und Schriftstellerin Emmy von Dincklage. Immer mehr Menschen fühlten sich gefangen im Netz des technisierten Zeitalters, schutzlos preisgegeben den elektrischen Signalen von Klingeln, Telefonen und Sirenen, dem Gestampfe und Getöse der Maschinen und Motoren.

"Ruhe ist vornehm"

Dabei waren es vor allem die Städte, die "groß und laut" geworden waren. So beschwerten sich die Bewohner in Berlin, dass man im Getöse der Hauptverkehrsstraßen oft nicht einmal mehr sein eigenes Wort verstünde; in London erhoben sich Klagen, dass der Verkehrslärm die Dinnerkonversation verunmögliche; Ohrenärzte monierten, dass es in ihren Praxen mittlerweile viel zu laut sei, um ordentliche Untersuchungen durchführen zu können.

Als Gegenreaktion entstanden in den USA und Europa gesellschaftliche Bewegungen, die sich für das "Recht auf Stille" einsetzten. In New York gründete die Aktivistin Julia Barnett Rice 1906 die "Society for the Suppression of Unnecessary Noise", in Deutschland rief der renommierte Publizist und Kulturphilosoph Theodor Lessing zwei Jahre später einen "Antilärmverein" ins Leben, dessen Wirken sich bis nach Österreich erstreckte. Er bot Lärmgeplagten seine Unterstützung an und versandte Beschwerdekarten mit der Aufschrift "Ruhe ist vornehm".

Ärzte, Stadtplaner und Architekten stellten Überlegungen zur Lärmreduktion an. Sie setzten sich für die Verbreitung von "geräuschlosem Pflaster" (Asphalt, Holzstöckel) ein, mit dem das ohrenbetäubende Gerumpel auf dem kopfsteingepflasterten Straßen verringert werden sollte. In Berlin erfand der Apotheker Max Negwer 1907 das bis heute gebräuchliche Lärmschutzmittel "Ohropax", das sogleich begeisterte Anhänger fand, unter ihnen Schriftsteller wie Franz Kafka und Peter Altenberg. In Dresden ließ der Arzt Robert Sommer spezielle "Ruhehallen" errichten, in denen sich die geplagten Ohren des Großstädters erholen konnten.

Wer es sich leisten konnte, entfloh in die Sommerfrische oder verlagerte seinen Wohnsitz an den noch ruhigen Stadtrand. Wie Arthur Schnitzler, der im April 1903 ins Wiener Cottageviertel übersiedelte und erleichtert in sein Tagebuch notierte: "Neue Wohnung, wunderschön durch Ruhe."

All diese Bemühungen waren jedoch meist defensiv ausgerichtet. Der Kampf um mehr Stille erwies sich nicht zuletzt deswegen als schwierig, da es in unseren kulturellen Deutungsmustern mächtige positive Assoziationen mit lauten Geräuschen gibt. Ihnen wird, wie kulturwissenschaftliche Studien belegen, tendenziell Stärke, Aktivität und Männlichkeit, aber auch Fortschritt und Modernität zugeschrieben, während Stille traditionellerweise als Ausdruck von Respekt, Passivität und Weiblichkeit gilt. Das Recht, Lärm zu machen, galt denn auch lange Zeit als Privileg der Mächtigen, während Menschen von niedrigerem Rang (Frauen, Kinder, Diener) zur Ruhe angehalten wurden oder unter Verdacht standen, die soziale Ordnung absichtlich durch Lärm zu stören. Lärm bedeutete Chaos, Stille bedeutete Ordnung.

Lauter Pöbel, stille Bürger

So verbirgt sich hinter der akustischen nicht selten eine soziale Auseinandersetzung. Ruhe war im 19. Jahrhundert zur "obersten Bürgerpflicht" geworden, zum Ausdruck von Kultur und Zivilisiertheit. In Abgrenzung zum vermeintlich lautstarken Pöbel wurden Zurückhaltung und Disziplin als bürgerliche Tugenden internalisiert: Schweigend lernte man zur Kirche zu gehen, still und distanziert verhielt man sich nunmehr im (abgedunkelten) Theater- und Konzertsaal und schließlich auch im Kino. Vom öffentlichen Raum abgedrängt, verlagerte sich die Stille in die Privatsphäre, wo sie das Verhalten neu strukturierte und regulierte - bis hin zum Mittagstisch ("Beim Essen spricht man nicht!").

Die Klangwelt "draußen" erfuhr indessen im Laufe des 20. Jahrhunderts eine grundlegende Änderung. Die Straße wurde zur monofunktionalen Fahrbahn, die ausschließlich auf die Bedürfnisse des - zunehmend motorisierten - Verkehrs ausgerichtet war. Bereits in der Zwischenkriegszeit, vor allem aber nach 1945 entflammten erneut Diskussionen um die Lärmplage in den Städten und die akustische Beeinträchtigung der letzten Ruhezonen in der Natur.

Stets waren es also technische Umbrüche und Modernisierungswellen, die den Stille-Diskurs intensivierten. Abermals wurden Lärmschutzorganisationen gegründet und Informationsoffensiven gestartet. In Wien rief man in den Jahren 1959/60 eine "Lärmfreie Woche" aus, das Technische Museum zeigte eine Ausstellung mit dem Titel "Weniger Lärm - gesünder und produktiver!" Das Argument der Produktivitätsminderung griffen auch die Medien auf, die mahnend die Frage stellten: "Bleibt dem Menschen im Jahrhundert der Technik, und vor allem dem Großstädter, wirklich nichts anderes übrig, als das sehnsüchtig geöffnete Fenster resignierend zu schließen und sich mit einem, Da kann man halt nix machen' Watte in die Ohren zu stopfen?"

In der Konsumära der Nachkriegszeit breitete sich indessen ein weiterer Sound aus: Kaufstimulierende Hintergrundmusik, nach der US-amerikanischen Erfinderfirma auch Muzak genannt, erklang immer häufiger in Warenhäusern, Geschäften und Speiselokalen, auf (halb)öffentlichen Plätzen bis hin zur winterlichen Skipiste. "Zwangsbeschallung!" empörten sich schon bald zahlreiche Gegner dieser Maßnahme, unter ihnen auch der deutsche Politologe und Journalist Rüdiger Liedtke, der mit seinem 1985 veröffentlichten Buch "Die Vertreibung der Stille" den Zeitgeist traf (das Buch ist in mehreren Auflagen mittlerweile zum Klassiker geworden).

Lärmerreger Handy

Seit Ende der 1990er Jahre ist eine weitere entscheidende Veränderung unserer akustischen Umgebung im Gange: Die mittlerweile fast lückenlose Durchdringung der Gesellschaft mit Handys gebiert die (potenzielle) Allgegenwart mehr oder weniger angenehmer Klingeltöne und Telefongespräche. Wobei es auch daraus fast kein Entkommen gibt: Denn im Versuch, sich von der akustisch allzu aufdringlichen Umwelt mittels Walkman oder iPod abzuschotten, wird man nicht selten selbst Geräuscherreger, wodurch sich der beschriebene Kreislauf weiter verstärkt.

Die Sehnsucht nach Stille ist, so lässt sich vermuten, im letzten Jahrzehnt deutlich gestiegen. Erst kürzlich bezeichnete der norwegische Starpianist Leif Ove Andsnes es als absoluten Luxus, dass es in seinem Heimatland so viel Stille gebe. Und in Österreich?

Auch hier sprechen die überfüllten Ruhezonen in den Wellness-Oasen oder die jüngste Veröffentlichung eines Stadtführers mit dem bezeichnenden Titel "Wiener Orte der Stille" eine deutliche Sprache. Vielleicht sollte man sich auch an Kaiser Franz Josef I. erinnern, der sein Empfangszimmer in der Hofburg mit einem schweren Teppich auslegen ließ und an seinen Besuchern, neben strenger Pünktlichkeit, vor allem eines schätzte: größtmögliche Geräuschlosigkeit.

Der Autor ist Historiker, Stadtforscher und Bereichsleiter im Technischen Museum Wien. Zahlreiche

Publikationen, zuletzt: "Blick auf Wien. Kulturhistorische Streifzüge" (Czernin-Verlag, 2007).

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