Der Klang der Städte

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Österreich-Deutschland: Das ewige Thema, einmal abgehandelt auf der Ebene der beiden Hauptstädte, und zwar unter einem ganz spezifischen Aspekt - dem des urbanen Sounds. Ein historisch-akustischer Vergleich zwischen Wien und Berlin.

War es in Wien um 1900 lauter als in anderen Großstädten? Wie können wir uns die Intensität der Geräuschkulisse von damals vorstellen? Eine nicht gerade einfach zu beantwortende Frage, sind doch gerade Hörgewohnheiten zu stark milieu- und kulturabhängig, als dass ein direkter Vergleich so ohne Weiteres möglich wäre. Und objektive Erhebungen und Messungen gibt es schon gar nicht.

Nichtsdestoweniger können wir einigen zeitgenössischen Hinweisen und Diskursen nachgehen, die uns zumindest ansatzweise Aufschluss geben über den urbanen Soundscape von damals. Denn die Frage, welche Großstadt denn die lauteste sei, beschäftigte schon zur vorigen Jahrhundertwende so manche Stadtbewohner.

Mit knapp zwei Millionen Einwohnern stellte die Reichshaupt- und Residenzstadt Wien eine der größten Metropolen Europas dar, neben London, Paris und Berlin. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte die Stadt ihr altes Kleid abgestreift, war zur Großbaustelle geworden, infrastrukturell aufgerüstet und mit allen dazugehörigen akustischen Begleiterscheinungen. Die Mutation zur Großstadt hatte, wie in vielen anderen europäischen Städten, Debatten über die rasanten baulichen und sozialen Veränderungen ausgelöst, über die Vor- und Nachteile des neuen urbanen Lebens, zu denen nicht zuletzt eine neue Bewertung der akustischen Umgebung und der sich verschärfenden Lärmproblematik gehörte. Gerade in dieser Hinsicht sollte Wien eine besondere Stellung einnehmen.

Schon Theodor Lessing, deutscher Kulturphilosoph und wichtigster Proponent der Lärmschutzbewegung, bemerkte, dass man nirgendwo sonst die Wirkung des Lärms besser studieren könne als in Wien. Gleich mehrmals war er zu Vorträgen hier gewesen, und jedes Mal staunte er über die akustische Besonderheit der Stadt. Auch andere bezeichneten Wien schlicht als "die nervöseste Großstadt des Kontinents“ und beklagten, dass vor allem der Verkehrslärm hier lauter und weit unerträglicher sei als beispielsweise in London.

Wien, die "Stadt der Rücksichtslosen“

Welche Begründungen wurden nun dafür genannt? Da war zum einen das in keiner europäischen Hauptstadt mehr so häufig verwendete, extrem geräuschintensive Steinpflaster (im Unterschied zum deutlich leiseren Asphalt- und Holzstöckelpflaster). Auch die relativ geringe Straßenbreite und die große Dichte der Verbauung wirkten sich nachteilig auf die Akustik des Stadtraumes aus, ebenso wie die nach wie vor oberirdisch verlaufende Straßenbahn, wohingegen etwa in London, Paris oder Berlin bereits Untergrundbahnen existierten. Der noch weitgehend ungeregelte Straßenverkehr tat ein Übriges, da er zum allzu häufigen Signalgeben animierte und damit - wie manche meinten - die ausgeprägte Tendenz der Wiener zum mutwilligen und rücksichtslosen Lärmen belegte.

Vor allem Letzteres, die soziale Komponente also, wurde mehrmals als spezifischer Wiener Beitrag zur großstädtischen Geräuschkulisse hervorgehoben. Eduard Pötzl, Schriftsteller und renommierter Feuilletonist des Neuen Wiener Tagblatts, ärgerte sich darüber, dass in "keiner Stadt des Continents“ so viel unnützer Lärm erzeugt werde wie in Wien. Nur hier seien die Menschen bemüht, "ihr Erdenwallen so laut als möglich zu betonen, gleichsam, als fürchteten sie, sonst übersehen zu werden“. Auch Max Winter, Feuilletonkollege der Arbeiter-Zeitung, argumentierte in diese Richtung und konstatierte angesichts des auf den Wiener Straßen ständig anzutreffenden Geschreis "in einer Stadt der Rücksichtslosen zu sein, in der alle glauben, ein Recht auf möglichst größten Lärm zu haben, und in der alle diese Lärmfreiheit unverschämt nützen“.

Und in Berlin? Im harten Wettbewerb der Metropolen, bei dem Wien sich nicht zuletzt klar zu werden versuchte über Stand und Fortschritt der eigenen Entwicklung, blickte man stets auch zur traditionellen Rivalin unter den deutschen Großstädten. Und hier fiel der akustische Vergleich durchaus ambivalent aus. Denn während die einen ironisch feststellten, dass man aus Berlin kommend nahezu immun gegen jede Art des Straßenlärms sei, verliehen andere Berlin die "Palme der Geräuschlosigkeit“ angesichts der dort existierenden breiten Straßen und konsequenten polizeilichen Maßnahmen. Verglichen mit Wien war Berlin in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zweifellos die modernere und - mit Blick nach Übersee - bereits stärker amerikanisierte Metropole.

Denn die künftigen Referenzorte lagen nunmehr in den USA, wo Städte wie Chicago und New York emblematisch die Urbanität der Neuen Welt verkörperten. Wie der Historiker Marcus Gräser gezeigt hat, rekurrierte der Großstadtdiskurs im Visuellen vornehmlich auf Chicago, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit enormer Schnelligkeit zur zweitgrößten Metropole des Landes herangewachsen war und mit seinen Wolkenkratzern, Schlachthöfen und sonstigen kapitalistischen Insignien als Fluchtpunkt und Endstadium einer modernen Metropole galt. In Deutschland galt das dynamische Berlin als europäisches Chicago, Wien hinkte deutlich hinterher.

Der Verlust der "Behaglichkeit“

Akustisch gesehen war in den Debatten eindeutig New York die führende Referenzstadt, als größte Metropole der USA und Geburtsstätte der Antilärmbewegung. In den diskutierten Rankings über die lautesten Städte der Welt lag New York stets unangefochten an der Spitze. Wenngleich zu bedenken ist, dass nur die wenigsten die USA aus persönlichem Erleben kannten. Wie der Wiener Wirtschaftsexperte Alexander Dorn, der sich fünf Wochen lang an der amerikanischen Ostküste aufhielt und dabei u. a. New York und Philadelphia besuchte. Nach seiner Rückkehr berichtete er im Frühjahr 1900 in mehreren Vorträgen über seine Reise. Der erste Eindruck von New York war auch für ihn "eine kolossale Bewegung von Menschen, ein Gedränge, ein Lärm“. Zu letzterem trug die Hochbahn ("elevated railway“) entscheidend bei, die - auf eisernen Stützkonstruktionen fahrend - einen "Höllenlärm“ verursachte.

Auch in Wien begann, wenngleich weit schwächer als in Berlin, ein Amerikanismusdiskurs, der die Stadt als Metropole von amerikanischer Betriebsamkeit projizierte. So verspürte der Journalist Karl Marilaun bereits 1913 den "ruhelosen Atem eines amerikanisch sich gebärdenden Jahrhunderts. Autohupen, Stadtbahnlokomotiven, abertausend Fabrikssirenen, der sausende Tanz der Maschinen, zerstören die altväterliche Behaglichkeit, die man dieser Stadt so lange nachsagen durfte.“

Der Amerikanisierung wurde in Wien deutlich defensiver und bis zu einem gewissen Grad auch melancholischer begegnet als im vitalen Berlin. Das altväterische, stark historisch konnotierte Wien sah sich in seinem Selbstverständnis weit eher als "Damm und Bollwerk wider den eindringenden Amerikanismus“.

Großstädte wie New York oder Chicago waren bei vielen Wiener Autoren aus dem bürgerlichen Milieu angstbesetzt, lösten Zerstörungs- und Untergangsfantasien aus. Auch im Akustischen. Schon 1908 hatte Hermann Bahr festgestellt, Wien sei "eine kleine Stadt, die zu groß wird und Angst davor kriegt“.

Der Autor

Peter Payer, geb. 1962, ist Historiker und Stadtforscher. Mitte Mai erscheint im Metro Verlag "Der Donaukanal. Die Entdeckung einer Wiener Stadtlandschaft“.

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