Trauerrede zum Begräbnis der Muße
Die Kunst der zweckfrei gestalteten Zeit war jenseits von Stillstand und Beschleunigung. Nun ist sie verschwunden. Wo aber sind ihre Erben zu finden?
Die Kunst der zweckfrei gestalteten Zeit war jenseits von Stillstand und Beschleunigung. Nun ist sie verschwunden. Wo aber sind ihre Erben zu finden?
Eine Trauergemeinde hat sich Ende Februar bei den „Montforter Zwischentönen“ in Feldkirch versammelt, um der Muße zu gedenken, die nach langem Leiden verstorben ist. Wer weiß denn noch, was Muße ist? Schon im deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm taucht sie nicht mehr auf; ursprünglich bedeuteten das althochdeutsche „muoza“ und das mittelhochdeutsche „muoze“ schlicht „Gelegenheit“, „Möglichkeit“. Muße war nicht die Patronin des Nichtstuns, sondern Inbegriff der frei gestalteten Zeit.
Beginnen wir mit einem Zitat aus dem Gedankenbuch des italienischen Dichters Giacomo Leopardi; er wurde 1798 in der Kleinstadt Recanati, südlich von Ancona, geboren und starb 1837, kurz vor seinem 39. Geburtstag, in Neapel. Vom Sommer 1817 bis zum Dezember 1832 führte er ein Tagebuch, das er „Zibaldone di pensieri“ nannte, auf Deutsch etwa: Vermischte Gedanken. In diesem Tagebuch finden sich folgende Sätze: „Ein großer Kunstgriff der Natur war es, das Leben durch den Schlaf gleichsam zu unterbrechen. Diese Unterbrechung ist beinahe eine Erneuerung und das Erwachen wie eine Wiedergeburt. So hat auch der Tag seine Jugend. Dazu kommt die große Vielfalt, die dadurch entsteht, dass die fortlaufenden Unterbrechungen aus einem einzigen Leben unzählige Leben machen.“ Ausgerechnet zu Beginn eines Zeitalters, das dem Leitbild des Fortschritts und unbegrenzten ökonomischen Wachstums zu folgen versprach, erinnert Leopardi an die Vorzüge der zyklischen Zeit, der Rhythmik von Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Arbeit und Muße.
Unzählige Leben
Eigentlich ist es sehr einfach, diese Rhythmen wahrzunehmen und zu spüren. Unentwegt begleitet das Metrum der Atmung, des Pulsschlags, der Nahrungsaufnahme und Ausscheidung das Leben; wie selbstverständlich erleben wir tägliche Weltuntergänge im Schlaf. Jedem Augenblick folgt ein unmerklicher Moment der Verdunkelung. Unser Sehen verlangt offenbar regelmäßige Sehpausen. Wir können die Augen nicht dauernd offenhalten, wir müssen sie immer wieder kurz schließen. Oder beobachten Sie einmal, wie lange Sie es ertragen, diesen Text mit ungemindertem Interesse zu lesen. Sie werden feststellen, dass Sie einige Sätze und Gedanken aufnehmen, dann von eigenen Assoziationen erfasst und fortgetragen werden, wieder zurückkehren, neuerlich entfliehen. Eben waren Sie noch da, schon sind Sie wieder weg.
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