Frau - © Collage: Florian Zwickl (Unter Verwendung von gettyimages / fizkes)

Krachendes "Systemversagen"

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Ruhe muss man sich leisten können. Für Lärmbetroffene hingegen gibt es kaum Unterstützung. Fragen der Umwelt-Ungerechtigkeit werden in Österreich noch grob stiefmütterlich behandelt.

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Ruhe muss man sich leisten können. Für Lärmbetroffene hingegen gibt es kaum Unterstützung. Fragen der Umwelt-Ungerechtigkeit werden in Österreich noch grob stiefmütterlich behandelt.

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Michael* (Name von der Redaktion geändert) hat es aufgegeben, seine Schulfreunde zu sich nach Hause einzuladen. Sie sagen ohnehin ab. Den Kindern in seiner Klasse ist es zu laut bei ihm. Sein Elternhaus steht nur 40 Meter von der Autobahn entfernt. Wie eine Raststätte ohne Ausfahrt. Tagsüber ist Familie Berger* (Name von der Redaktion geändert) bei geschlossenen Fenstern einer Lautstärke von 75 Dezibel ausgesetzt – das entspricht in etwa der Geräuschkulisse einer Waschmaschine im Schleudergang. Nachts reduziert sich der Schall auf 65 Dezibel. Ein Pegel, der vergleichbar ist mit dem Rattern einer Nähmaschine. Dass dieser Krach auf Dauer zermürbt, ist wenig verwunderlich. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gilt nachts bereits eine Lautstärke oberhalb von 45 Dezibel (etwa das Brummen eines Eiskastens) als gesundheitsschädlich. Ein Wert, von dem die Bergers nur träumen können.

Umweltjurist Werner Hochreiter, der für die Arbeiterkammer diverse Gutachten zur Situation der Familie angefertigt hat, sagt: „Bei einem Getöse wie diesem wird es schon mit Schallfenstern schwierig.“ Die gute Nachricht vorweg: Nach 15 Jahren bürokratischen Gezerres mit der Republik Österreich erhalten Michaels Eltern eine Ausgleichszahlung und die Familie kann sich an einem ruhigeren Ort niederlassen. Auch wenn das Schicksal der Bergers nur die Spitze des Eisbergs ist – es steht doch exemplarisch dafür, dass Lärmbetroffene hierzulande größtenteils auf sich gestellt sind und der Staat seiner Sorgfaltspflicht zu wenig nachkommt. Experten wie Hochreiter sprechen von „Systemversagen“.

Lärmschutz wird privatisiert

Dabei gibt es mehr als genug Bürger, die sich von Lärmquellen in ihrem Wohlbefinden eingeschränkt fühlen. Laut Statistik Austria werden 38,7 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher in ihrer Wohnung durch Lärm belästigt – was dazu führt, dass ihr Stresslevel stets höher ist als jener ihrer Mitbürger, die im wahrsten Sinne des Wortes in Ruhe gelassen werden. Auch das WHO Regionalbüro für Europa sieht Lärm zunehmend als problematisch an und hat im Herbst 2018 Leitlinien für den Schutz der menschlichen Gesundheit vor der Belastung durch Umgebungslärm formuliert. „Dieser Beschluss war unserer damaligen Regierung nicht einmal eine Presseaussendung wert. Geschweige denn, dass man sich ernsthaft damit auseinandergesetzt hätte“, sagt AK-Umweltjurist Hochreiter. Doch wann wird ein Geräusch zum Lärm – und wann wird dieser politisch?

In Österreich macht man, salopp gesagt, den Bock zum Gärtner: Der Lärmschutz wird jenen übertragen, die den ungeliebten Schall erst befördern.

Wie komplex das Thema ist, zeigt sich bei klassischen Nachbarschaftskonflikten. Rund ein Sechstel all jener, die unter Lärm leiden, machen die Laute aus der Wohnung nebenan dafür verantwortlich. Vor allem im Sommer, wenn die Fenster geöffnet sind, verschärft sich das Problem. Eine ausgelassene Stimmung auf dem Balkon, ein dröhnender Bass, Hundegebell, weinende Kinder, elektrische Rollläden, Bohr- und Hammergeräusche, Klaviergeklimper, Rasenmäher – die Liste der Quellen, die Nerven und Schlaf rauben, ist lang. Tatsächlich sind Ruhezeiten, beziehungsweise Lärmhöchstgrenzen, in einem Wohngebiet nicht allgemein geltend geregelt. Erstens werden sie von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich gesetzt, zweitens wird ohnehin von Fall zu Fall – etwa, wenn die Polizei gerufen oder sich ein Rechtsstreit entfacht – individuell geprüft, ob es sich um Lärmerregung handelt oder nicht.

Denn Lärm ist nicht gleich Lärm – sondern hat viel mit der subjektiven Bewertung eines Geräusches zu tun. Auch das individuelle Ungerechtigkeitsempfinden spielt eine Rolle. Wenn der Nachbar als zu laut empfunden wird, raten deshalb Rechtsexperten wie Psychologen, zunächst das klärende Gespräch zu suchen, um einen Kompromiss zu finden. Ganz anders verhält es sich bei Verkehrs- und Baustellenlärm. Der ist nicht verhandelbar. Dabei nennt ihn ein Großteil der Lärmbetroffenen als Hauptquelle, die ihnen das Leben schwer macht. In Österreich braust, brummt, hallt, knallt, poltert und tost es vor Gemeindebauten, Kindergärten, Krankenhäusern, Schulen oder Einfamilienhäusern – und das oft rund um die Uhr. Politisch gesehen sind hier zwei Ebenen relevant. Erstens fehlt in Österreich ein Lärmschutzgesetz. „Die Rechtslosigkeit von Betroffenen, vor allem beim Verkehrslärm, ist Realität. Die aktuellen Leitlinien der WHO blieben vom ehemaligen Infrastrukturminister Norbert Hofer unberücksichtigt“, sagt Hochreiter. Ein Grund liegt für ihn auf der Hand: „Das Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie sieht seine Rolle zu sehr als Betreibervertreterin und achtet zu wenig auf die Belange von Lärmbetroffenen. Eine weitere Tendenz ist, dass Lärmschutz privatisiert wird. Siehe Flughafen-Mediation in Wien-Schwechat.“

Aggression, Lernen, Gedächtnis

Salopp gesagt macht man in Österreich damit den Bock zum Gärtner. Der Lärmschutz wird jenen übertragen, die den ungeliebten Schall erst befeuern. Ein Blick über die Landesgrenze zeigt, wie man es besser machen kann. In der Schweiz fallen die Interessen von sogenannten Umwelt-Ungerechtigkeits-Opfern in den Zuständigkeitsbereich des Umweltministeriums. Das Ministeriums-Paradoxon ist eine Seite der unzulänglichen Lärmpolitik – der enge Zusammenhang mit sozialen Ungleichheitsfragen eine andere. So lässt sich aus der „Environmental Justice“-Forschung, der Wissenschaft zur Umweltgerechtigkeit, die Hypothese ableiten: Gruppen, die in sonstiger Hinsicht sozial benachteiligt sind, sind auch vermehrt Umweltlärm ausgesetzt. Das bestätigt auch AK-Umweltökonom Florian Wukovitsch: „Personen mit niedrigem Einkommen, umso mehr armutsgefährdete Personen, werden in Österreich stärker durch Lärm beeinträchtigt als jene mit mittlerem oder hohem Einkommen.“ Ruhe, so scheint es, muss man sich leisten können. Wie lässt sich diese Korrelation erklären?

Wohnungen an stark befahrenen Straßen sind billiger als jene in ruhigen Nebenstraßen. Grundstücke und Häuser an Bahnstrecken kosten weniger als ihre Pendants fernab der Zuggleise. „Am Lärm scheiden sich nicht nur die Geister, sondern auch die sozialen Schichten“, sagt etwa der Umwelthistoriker Frank Uekötter. „Gerecht wäre, einem Menschen die Möglichkeit zu geben, sich aus Gegenden, deren Akus­tik er nicht verträgt, zurückzuziehen. Geringverdienern bleibt diese Wahlmöglichkeit in der Regel verwehrt.“

Zwar ist der Mensch in der Lage, Geräusche zeitweise auszublenden – der Lärm wirkt dann aber unbewusst auf Körper und Psyche weiter.

Ist es möglich, sich an permanenten Krach zu gewöhnen? Sozialmediziner sagen nein. Zwar wäre der Mensch in der Lage, Geräusche zeitweise auszublenden – der Lärm wirke dann aber unbewusst auf Körper und Psyche weiter. Die Folge: Herzkrankheiten, Schlafstörungen, Depression. In der EU verzeichnet die WHO mindestens 10.000 vorzeitige Todesfälle, die durch Lärm verursacht wurden. Die Formel lautet: Lärm verursacht Stress und der macht bekanntermaßen krank. In den 1960-Jahren wurden in den USA umstrittene Experimente mit Mäusen durchgeführt. Sie wurden über mehrere Stunden hinweg mit einer Sirene beschallt. Das Ergebnis: Die Tiere starben. Untersuchungen in Deutschland haben wiederum einen Zusammenhang zwischen der Aggressivität von Jugendlichen und der Intensität der Lärmkulisse, der sie im Kindesalter ausgesetzt waren, festgestellt. Studien des Münchner Helmholtz Zentrums zeigen darüber hinaus, dass sich die Lernfähigkeit und Gedächtnisfunktion von Schülern verschlechtert, wenn ihre Schule in einem mit Fluglärm belasteten Gebiet liegt.

Wie also geht Lärmschutz, ohne das gesellschaftliche Leben zum Stillstand zu bringen? „Das Gegenteil von Lärm ist nicht Stille, sondern eine akustische Umgebung, in der man sich wohlfühlt“, sagt der deutsche Sozialmediziner Werner Maschewsky. Dem stimmt Jurist Werner Hochreiter zu: „Um mich erholen zu können, brauche ich keinen Nullpegel. Ich kann mich auch entspannen, wenn ich auf einem belebten Marktplatz einen Kaffee trinke.“ Die Gretchenfrage beim Thema Lärm liege demnach auf der Hand: Wie gelingt unser Zusammenleben, ohne dass sich jemand einer unangenehmen Akustik ausgeliefert fühlt?

Die Familie Berger fühlt sich wohl in ihrem neuen, ruhigen Zuhause. Jurist Hochreiter hat sie noch nicht besucht, aber es wurde ihm am Telefon versichert, dass Gäs­te in der neuen Bleibe ausdrücklich erwünscht sind. Verständlich. Die Bergers haben viel nachzuholen. Psychologen raten übrigens, auch die Nachbarn auf Feste in den eigenen vier Wänden einzuladen. Dann würden sich diese erst gar nicht gestört fühlen. Lärm ist schließlich immer das Geräusch der anderen.

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