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Die Opfer der Seuche Motorisierung

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Nimmt man Unfalltote, Krebs-und Lärmopfer zusammen, fordert der Straßenverkehr als Todesursache viel mehr Opfer als Aids, das in aller Munde ist. Die Auto-Epidemie grassiert vor allem in Entwicklungsländern.

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Nimmt man Unfalltote, Krebs-und Lärmopfer zusammen, fordert der Straßenverkehr als Todesursache viel mehr Opfer als Aids, das in aller Munde ist. Die Auto-Epidemie grassiert vor allem in Entwicklungsländern.

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Im heurigen Pfingstverkehr wurden nur”, hebt der Nachrichtensprecher an, um eine nackte Zahl von Verkehrstoten zu nennen. „Das ist um”, geht die Meldung dann üblicherweise mit einem Vergleich zum Vorjahr weiter. Nicht selten gilt es, eine leicht gesunkene Zahl zu vermelden. Die Nachricht vom Tod mehrerer Menschen wird - zumindest unterschwellig - zur Jubelmeldung, weil wir uns an größeren Blutzoll gewöhnt haben.

Keinen Grund zum Jubel haben viele sogenannte Entwicklungsländer, in denen sich die Zunahme der Kraftfahrzeuge so stark beschleunigt hat, daß weder Gesellschaft noch Infrastruktur sie in geregelte Bahnen lenken können. Mit verheerenden Folgen: In vielen Ländern Asiens und Afrikas sterben pro 10.000 Fahrzeuge zigmal mehr Menschen bei Autounfällen als in Europa.

In Summe stellt das Gesundheitsproblem Straßenverkehr global betrachtet ein mit Abstand größeres Problem dar als Aids, für dessen Bekämpfung weltweit seit Jahren Unsummen ausgegeben werden. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO kommen alleine durch Unfälle jährlich 885.000,Personen um. Dabei werden noch nicht einmal alle tödlichen Havarien gemeldet - selbst in Großbritannien sind es nur 95 Prozent. Der deutsche Arzt und Autoverkehrs-Kritiker Johannes Spatz spricht daher von „weit mehr als einer Million Menschen”.

Das Gros der loten kommt nach Verkehrsunfällen um - in vielen Entwicklungsländern auch wegen mangelnder medizinischer Versorgung. Die Einrichtung einer flächendeckenden Unfallrettung geht nicht mit dem nötigen Tempo voran. Den viel höheren Blutzoll auf den Straßen des Südens erklärt Spatz auch mit technischen Mängeln der Fahrzeuge, Stichwort Kontroll- und Reparaturstandard.

Dazu kommen die selbst in Industriestaaten noch wenig bekannten Todesfälle und Gesundheitsschäden durch Lärm- und Abgasemissionen. Stellvertretend für Luftschadstoffe hebt der Mediziner Spatz das krebserregende Benzol hervor. Während Deutschland über einen Maximalwert von zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft diskutiert, kamen Messungen in der nigerianischen Hauptstadt Lagos auf durchschnittliche 250 Mikrogramm.

„Damit liegt Lagos beim Fünffachen der am stärksten belasteten Straße in Berlin, der Brückenstraße”, erläutert Spatz. Die krebserregende Wirkung steige linear mit der Konzentration. „In solchen Metropolen der Dritten Welt existiert ein mehr als fünffaches, durch Luftschadstoffe verursachtes Krebsrisiko”, resümiert der Autokritiker.

Wer viel Straßenlärm ausgesetzt ist, hat höheres Herzinfarkt-Risiko

Weniger untersucht wurde bislang die Belastung durch Straßenlärm. Selbst für Deutschland liegen erst seit einigen Jahren Berechnungen vor. Erhöhter Blutdruck durch Straßenlärm führt nach Angaben des deutschen Umweltbundesamtes zu 3.000 zusätzlichen Herzinfarkt-Toten jährlich. Auch Blei-Belastung, wie sie in vielen Ländern aus den Auspuffen quillt, kann zu Bluthochdruck führen. Das ist nicht die einzige gesundheitliche Folge von verbleitem Treibstoff. So ist vor allem die giftige Wirkung des Schwermetalls auf das Nervensystem längst bekannt. Kinder können lebenslängliche Schäden davontragen, etwa den Verlust mehrerer Punkte ihres Intelligenzquotienten. Neben Verblödung durch Verbleiung befürchtet eine aktuelle Weltbank-Studie auch Lernschwierigkeiten, Gehörschäden, Konzentrationsschwächen und Verhaltensauffälligkeiten.

Derlei Gesundheitsprobleme sind vor allem in Entwicklungsländern zu beobachten, ist doch dort verbleiter Kraftstoff gang und gäbe. In manchen afrikanischen Staaten fließt sogar noch Treibstoff mit mehr als der doppelten Menge Blei aus den Zapfsäulen als in den USA vor dem Totalverbot.

Wegen der schweren Gesundheitsschäden - der menschliche Organismus kann Schwermetalle nicht effizient abbauen - fordert die sonst nicht gerade radialökologische Weltbank den Ausstieg aus der Bleizugabe.

In Bangkog ist das Unfallrisiko dreißigmal so hoch wie in Berlin

Alles in allem, so hat der Mediziner Spatz die Opfer des Straßenverkehrs für Berlin hochgerechnet, kamen im Vorjahr bei Unfällen 143, durch Krebs 250 und nach Herzinfarkt 100 bis 200 Menschen zu Tode. Dramatischer seine Bilanz für Metropolen wie Mexiko-Stadt oder Bangkok: Dort bestehe ein „zehn- bis dreißigfaches Gesamtrisiko”.

Trotz mahnender Stimmen scheint die in Fahrt gekommene Entwicklung nicht zu stoppen. Im Gegenteil: die beschleunigte Motorisierung der Entwicklungsländer übertrifft das Wachstum in anderen Bereichen. Der weltweite Fuhrpark mit seinen derzeit knapp 600 Millionen Autos „dürfte bis 2010 auf 816 Millionen hinaufgeschossen sein”, schätzt eine Weltbank-Studie. Prognostizierter Hauptschauplatz des Wachstums: Entwicklungsländer und Osteuropa.

In den Megastädten sind Autoboom und Verkehrsinfarkt durch falsche Anreize oft hausgemacht. So hat Ronaldo Balassiano von der Bundesuni versität Rio de Janeiro aufgezeigt, daß die privaten Verkehrsunternehmer in der brasilianischen Metropole bewußt weniger öffentliche Busse einsetzen als von der Stadtverwaltung verlangt. Der Hintergrund: Im Wettbewerb zwischen den privaten Betreibern gelten Passagier- und Profitmaximie-rung als oberste Maxime.

Die Folge: Wer immer den überfüllten Bussen durch Autokauf entfliehen kann, tut das. Ohne strengere Kontrolle, so Balassianos Prognose, werden sich in nur neun Jahren um die Hälfte mehr Autos durch Rio schlängeln.

Die Industriestaaten sind für diese Fehlentwicklung mitverantwortlich. So bemängelten etwa die Teilnehmer der Tagung „Verträgliche Mobilität, Entwicklungspolitik und die vergessenen Verkehrsmittel” der deutschen Evangelischen Akademie, daß Ent-wicklungspoltik Straßenbau und Stadtmodernisierung großzügig fördere und damit der Autoindustrie den Weg bereite. Qiam Djallalzada aus Afghanistan etwa kritisierte „die aus dem Norden importierte Stadt- und Verkehrsplanung. Ursprünglich fußgängerorientierte Kulturen werden verdrängt, historische Stadtbilder unweigerlich zerstört.”

Auch das Prestige der Entwicklungshelfer oder UN-Beamten, die vielfach in unnötig großen Geländewagen daherrollen, trägt zum Import der Mobilitätsgewohnheiten des Nordens bei. Wenn der „weiße Mann”, die Vereinten Nationen und die Reichen in den eigenen Metropolen aufs Auto setzen, muß das Prestige des angepaßten und etablierten Fahrrads über kurz oder lang unter die Räder kommen. Spätestens, wenn es aus der Windschutzscheiben-Perspektive als Hindernis wahrgenommen wird.

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