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Die Schande der Welt

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Am Anfang stehen Zahlen für UrGefühle. Auf der südlichen Halbkugel leben heute 76% der Weltbevölkerung. Im Jahr 1930 waren es 68%. Bis zum Jahr 2000 wird sich die Weltbevölkerung schätzungsweise von derzeit 4 Milliarden auf 6,5 Milliarden vermehren. So wird sich die Bevölkerung in den Entwicklungsländern bis zur Jahrtau send wende verdoppeln. Dann werden 80% der Menschen auf der südlichen Halbkugel leben.

Mindestens ein Drittel der Weltbevölkerung leidet an Hunger oder Unterernährung, nach anderen Berechnungen zeitweise fast die Hälfte. In den entwickelten Regionen beträgt der Nahrungsmittelverbrauch 2000 Gramm pro Person und Tag, aber nur 500 Gramm in Regionen mit niedrigem Lebensstandard.

Die Lebenserwartung liegt in den westlichen Industrieländern um 40% über jener in den Entwicklungsländern. Die Zahl der Analphabeten wird auf 800 Millionen veranschlagt-100 Millionen mehr als in den fünfziger Jahren. Die Arbeitslosigkeit in den Entwicklungsländern liegt nach amtlichen Meldungen bei 20 bis 30%, tatsächlich aber wesentlich höher.

Im Vergleich der Pro-Kopf-Einkommen zwischen Entwicklungsländern und Industrieländern läßt sich für die letzten 20 Jahre eine Veränderung von 1: 10 zu 1: 13 zu Ungunsten der Entwicklungsländer ausrechnen - und dies, obwohl der Süden wirtschaftlich wesentlich schneller und nachhaltiger expandiert als der Norden.

Die Dritte und Vierte Welt bestreiten derzeit 7% der Weltindustrieproduktion, 93% der Norden: ein außerordentlicher Abstand. In der Tendenz nimmt er zwar ab, aber das

Tempo reicht bei weitem nicht, um das Problem „Wohlstandsgefälle“ in einem überschaubaren und deshalb politisch relevanten Zeitraum zu lösen.

Die Verschuldung der Entwicklungsländer liefert ein abschreckendes Beispiel dafür, wie alle Beteiligten in einen unkontrollierbaren Prozeß hineinstolpern. Die Gesamtverpflichtungen der Entwicklungsländer gegenüber ausländischen Gläubigern sind von 18 Milliarden Dollar im Janr 1960 auf über 300 Milliarden Dollar im Jahr 1978 angestiegen: nominal also um fast das 17fache. Der jährliche Schuldendienst der ärmsten Entwicklungsländer stieg in dieser Zeit von 8% ihrer Exporterlöse auf über 20%.

Das goldene Bett eines Ministers aus Afrika oder das Streben vieler Regierungen nach einem Prestige-Stahlwerk sind nur äußere Zeichen des Mißbrauchs oder derFehlinvestition. Tatsächlich reichen die strukturellen Fehlentwicklungen tiefer. Westliche Lebensformen und nördliche Wirtschaftsformen fanden im Süden keine Entsprechung. So wurden Fehler Kolonialismus nicht etwa abgebaut, sondern verstärkt: Einseitige Orientierung nach den Gesetzmäßigkeiten und Bedürfnissen der Metropolen der ehemaligen Kolonialmächte und/oder der nördlichen Industriezentren; Vernachlässigung der Infrastruktur im Süden; Unterschätzung des ländlichen Raums trotz erheblicher Produktions- und Produktivitätssteigerungen im Süden; Uberschätzung der Exportbedürfnisse des Südens bei agrarischen und industriellen Rohstoffen, Nahrungsmitteln sowie speziellen Konsum- und Investitionsgütern; Fixie-

rung auf den Austausch gängiger Massenprodukte des Südens gegen modische Spitzenerzeugnisse des Nordens; Unterschätzung des wahren Eigenbedarfs im Süden; Unterschätzung gewisser Einfachprodukte und Uberschätzung modernster Technik; Abhängigkeiten von den nachkolonialen Waren- und Geldströmen, von Entwicklungshilfe sowie von Technologien der Industrieländer ...

Ein spezielles Ärgernis: Waffenkäufe der Entwicklungsländer. Das Kaufvolumen des Südens für Waffen wird mit sechs bis acht Milliarden US-Dollar im Jahr veranschlagt - bei rund 40 Milliarden öffentlicher und privater Entwicklungshilfe. Daß 15 bis 20% aller Finanzleistungen in unproduktive Vernichtungsmittel investiert werden, zeigt auch dann noch eine gravierende Fehlentwicklung, wenn man realistischerweise bedenkt, daß dieser Export von Nord nach Süd. in den Lieferländern Arbeitsplätze sichert.

Keines der anstehenden Probleme konnte bisher behoben, nicht einmal bewegt werden. Die Grundbedürfnisse von mehr als einer Milliarde Menschen können nicht befriedigt werden. Dieses Unvermögen mag -wie andere - im einzelnen zu begründen sein. Es bleibt für die übrige Welt beschämend. Daraus ergibt sich die erste These:

Für die Grundbedürfnisse ist ein Ressourcentransfer aus den Staatskassen der Industrieländer verläßlich zu organisieren.

Die Entwicklungsländer konnten mit der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung während der letzten Jahrzehnte nicht Schritt halten.

Strukturlücken im Süden und Strukturfehler im Norden ergeben die zweite These: Die Strukturen in den Industrieländern und in den Entwicklungsländern müssen von Grund auf überdacht, neu gestaltet und in ein belastungsfähiges Verhältnis zueinander gebracht werden.

Die dritte These besagt: Wirtschaftliches Wachstum mit seinen heilsamen Wirkungen auf die Grundbedürfnisse und vorhandenen Strukturen läßt sich weltweit nur erreichen, wenn neue internationale Maßstäbe für Standorte, Kapazitäten, Preise, Löhne, Erträge und Technologien gesetzt werden.

Eine wesentliche Voraussetzung für Annäherung und Wachstum ergibt sich aus einer umgeformten Weltwährungsordnung, die sich nicht mehr ausschließlich nach den Rang- und Reihenfolgen der industriellen Zentren richtet, sondern auch nach den Bedürfnissen der südlichen Volkswirtschaften am Rande. Die vierte These lautet deshalb:

Für den Ressourcentransfer bedarf

es andersartiger Auswahlkriterien und Zahlungsmodalitäten - einschließlich Rückzahlung und Eigentumsschutz, um weltwirtschaftliche Hemmungen zu überwinden und einseitige Vorteile zu vermeiden.

Solange Entwicklungspolitik lediglich als Entwicklungshilfe verstanden und als gesicherte Rohstoffversorgung oder bequeme Exportförderung behandelt wird, kann der entscheidende Durchbruch zu einem spannungsfreien Verhältnis zwischen Nord und Süd nicht gelingen. Daher die fünfte These:

Nur mit einem veränderten Massenbewußtsein und einsichtigen Zielsetzungen mag der Teufelskreis des Elends gesprengt und ein nüchterner Interessenausgleich überhaupt erst begonnen werden. Im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhun-dertes kann die Menschheit beweisen, daß sie aus den Fehlern des ersten und zweiten Drittels gelernt hat und daß sich ihre Fähigkeiten im Extremfall nicht darin erschöpfen, Gegensätze mit Gewalt zu lösen.

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