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Der Kampf um die „Friedensdividende"

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Die Sowjetunion ist bankrott und zerfällt. Seit sie als Weltmacht abgemeldet ist und ein Ende des Kalten Krieges möglich erscheint, ist glaubhafte weltweite Abrüstung zum Thema geworden. Was soll nun mit den frei werdenden Rüstungsmilliarden geschehen? Wer soll welchen Teil von dieser sogenannten „Friedensdividende" bekommen?

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Die Sowjetunion ist bankrott und zerfällt. Seit sie als Weltmacht abgemeldet ist und ein Ende des Kalten Krieges möglich erscheint, ist glaubhafte weltweite Abrüstung zum Thema geworden. Was soll nun mit den frei werdenden Rüstungsmilliarden geschehen? Wer soll welchen Teil von dieser sogenannten „Friedensdividende" bekommen?

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Derzeit läuft eine ganze Reihe von Abrüstungsinitiativen: Die Vereinten Nationen wollen ein Register zur Erfassung aller Waffenexporte einrichten, um Käufer und Verkäufer von Rüstungsgütern besser unter Kontrolle zu halten. Auch für die EG wird die Kontrolle der Rüstungsexporte bei der Regierungskonferenz über die politische Union im Dezember als einer der ersten konkreten Bestandteile einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik von großer Bedeutung sein. Die Nato wiederum hat anläßlich einer vor wenigen Tagen auf Sizilien stattgefundenen Konferenz die drastische Kürzung des atomaren Kurzstreckenpotentials in Europa und der luftgestützten atomaren Kapazitäten beschlossen.

Unerhörtes hatte sich auch beim letzten Weltwirtschaftsgipfel der sieben größten westlichen Industrieländer im Juli in London begeben: Man räumte eine gewisse Mitverantwortung am Ausbruch des Golfkrieges ein. Friede und Stabilität, hieß es, könnten untergraben werden, wenn einem Land die Möglichkeit zum Erwerb eines Waffenarsenals gegeben werde, das seinen Bedarf für die Selbstverteidigung weit übersteigt. Solcher Mißbrauch solle in Zukunft verhindert werden, verbindliche Richtlinien sollen den Waffenexport in die nahöstliche Krisenregion kontrollieren.

Für alle diejenigen, die nun gute Vorsätze fassen, wäre zunächst Selbstbeschränkung vordringlich. So gehören die fünf Veto-Mächte der UNO (USA, UdSSR, China, Großbritannien, Frankreich) auch zu den größten Waffenlieferanten. In den letzten fünf Jahren bis einschließlich 1990 lieferten sie Kriegsgerät im Wert von ISO Milliarden Dollar in die Staaten des Nahen Ostens. 90 Prozent des irakischen Arsenals stammten aus ihrem Angebot.

Unter besonderem Abrüstungsdruck sind aber die USA geraten, wie die jüngesten weitreichenden Vorschläge des amerikanischen Präsidenten zeigen. Zwar haben die Amerikaner bereits ein Programm laufen, in dessen Rahmen bis 1996 weltweit Dutzende Militärbasen geschlossen, Jagdbomber nicht mehr produziert und Tausende Soldaten entlassen werden sollen. 1996 sollen im Haushalt des Pentagon gegenüber dem Basisjahr 1987 Kaufkraft bereinigt 25 Prozent eingespart sein.

Die jetzigen Bush-Vorschläge an die UdSSR gehen aber wesentlich weiter. So wollen die USA auf eine neue atomare Kurzstreckenwaffe verzichten, die derzeit für die Stationierung in Europa entwickelt wird. Alle Atomwaffen könnten unter Umständen von den Schiffen der US-Flotte entfernt werden. Insbesondere aber könnte die Zahl der Interkontinentalraketen mit atomaren Mehrfachsprengköpfen beträchtlich reduziert oder sogar auf Null gebracht werden. In Europa verblieben dann nur noch Atomwaffen Großbritanniens und Frankreichs, was diese ihrerseits unter Zugzwang setzt.

Zwänge des Staatshaushaltes

Nun ist aber auch Bush nicht plötzlich zum Pazifisten mutiert: Einerseits sind es die Zwänge des Haushalts, die ihm den Abrüstungskurs nahelegen. Denn das waffentechnische Niederringen der Sowjetunion hat auch der amerikanischen Wirtschaft und vor allem dem Staatshaushalt nicht gut getan. Andererseits aber fürchtet Washington, daß Moskau -möglicherweise bald nicht mehr in der Lage sein wird, verbindliche Abrüstungsvereinbarungen für die gesamte bisherige Sowjetunion einzugehen. Müßte aber mit mehreren

Nachfolgerepubliken verhandelt werden, so wären Fortschritte sicherlich schwieriger zu erreichen.

So hatte die rüstungspolitische Diskussion in den letzten Monaten hohe Dynamik entwickelt. Es war daher wenig überraschend, daß sich die Frage der Reduktion der Rüstungsausgaben neben dem Problem Sowjetunion als zweiter Schwerpunkt für die Währungsfonds- und Weltbanktagung Mitte Oktober in Bangkok herauszubilden begann. Die Chance schien greifbar, in der gegebenen weltpolitischen Situation die unproduktiven, für Rüstungszwecke eingesetzten Staatsausgaben in friedlichere Aufwendungen zur ökonomischen Regenerierung umzuwidmen - und zwar sowohl in den reichen Industrie- wie in den armen Entwicklungsländern. Damit könnte die Friedensdividende, nämlich der Nutzen aus dieser Umwidmung, erwirtschaftet werden.

Insbesondere in bezug auf die Dritte Welt machen internationaler Währungsfonds und Weltbank seit langem die unproduktiven Rüstungsaufwendungen für die anhaltende und sich noch verschlimmernde Armut verantwortlich. In Entwicklungsländern mit großen sozialen und ökonomischen Problemen wirken sich übermäßige Verteidigungsausgaben nach Meinung des Währungsfonds extrem wachstumshemmend aus.

Zur Jahresmitte 1991 wurde im Rahmen einer Studie des Währungsfonds das Problem aufgegriffen.

Demnach reduzieren überhöhte Verteidigungsaufgaben vor allem in den Entwicklungsländern die Aufwendungen für soziale Zwecke, beschränken die möglichen Ausgaben für die wirtschaftliche Entwicklung, blähen die Staatshaushalte auf, erhöhen die Defizite die Zahlungsbilanzen und Staatshaushalte und sind damit zu einem nicht unwesentlichen Teil auch mitbeteiligt an der Schuldenmisere.

Spielraum für andere Aufgaben

Jedoch: Erstmals seit mehr als 40 Jahren, in denen die Welt im Kalten Krieg erstarrte, und die Rüstungsausgaben sich gegenseitig hochschaukelten, gibt es nach Ansicht hochrangiger Währungsfonds-Manager eine reelle Chance, bei den Waffen zu sparen und die Gelder für humanere Zwecke einzusetzen oder zumindest die Schulden zu reduzieren und damit Spielraum für andere Aufgaben zu gewinnen. Es wurde errechnet, daß der Kapitalbedarf für die Regenerierung Osteuropas und der Mittel-Ost-Region allein aus Einsparungen in den Verteidigungshaushalten bestritten werden könnten, sodaß es zu keinen Kürzungen bei den für die Entwicklungsländer zur Verfügung stehenden Gelder kommen müßte. Weltweit durchschnittlich 4,5 Prozent des Brutto-Sozialprodukts für Rüstung aufzuwenden, wäre einfach zu viel, wobei dieser Durchschnitt naturgemäß verschweigt, daß in vielen Ent-wicklungs-, aber auch fortgeschrittereneren Ländern dieser Prozentsatz oft um ein Mehrfaches höher liegt., Leider konnte die Mitte Oktober stattgefundene Tagung von Weltbank und Währungsfonds die Hoffnungen auf eine Grundsatzdiskussion dieser Art dann doch nicht erfüllen: Die Sowjetunion, die erstmals als präsumtives Mitglied an der Tagung teilnahm, der drohende Kollaps ihrer Wirtschaft, die Gefahr einer winterlichen Hungersnot, die Streitigkeiten um die Finanzierung einer etwaigen Hilfe und die Differenzen in den diesbezüglichen Standpunkten zwischen den USA und Deutschland zogen fast alle Aufmerksamkeit auf sich.

Umschwung im Denken

Für die Frage der Umwidmung der Rüstungsgelder blieb da relativ wenig Zeit, obwohl ein Zusammenhang, wie erläutert, leicht herzustellen gewesen wäre. So beließ man es bei einigen dürren Worten, etwa, daß sich die Mehrzahl der Teilnehmer über die einmalige Chance unproduktive und übermäßige Ausgaben für Rüstungszwecke zu verringern, einig gewesen sei. Die volkswirtschaftliche Abteilung der Weltbank werde jedenfalls in den nächsten zwölf Monaten mit besonderer Aufmerksam dieser Frage nachgehen. Manche Kritiker, die sich mehr erwartet hatten - wie übrigens auch zur Frage von Umweltprogrammen und sozialen wie politischen Mindeststandards in den Entwicklungsländern - sprachen daher von einem Fehlschlag der Tagung.

Aber das Thema wird auf der Tagungsordnung bleiben, denn der Umschwung im Denken über die Rüstungsaufwendungen ist eklatant.

Sicher wäre es übertrieben, nun die Lösung aller entwicklungspolitischen und schuldenrelevanten Probleme von der Reduzierung des Hochrüstung zu erwarten. Auch könnte die Friedendividende teilweise schon in Form eines allmählichen Abbaus von Haushaltsdefiziten lukriert worden sein. Aber gerade Weltbank und Währungsfonds haben zuletzt wiederholt darauf hingewiesen - und sollten auch in den nächsten Jahren nicht müde werden, es wieder zu tun -, daß derzeit das Verhältnis zwischen globalem Investitions- und Kapitalbedarf einerseits und globalem Sparaufkommen andererseits gestört ist. Das müßte weiterhin hohe und steigende Zinsen nach sich ziehen, was die Probleme der verschuldeten Länder verschärfen würde. Die freiwerdenden Rüstungsmilliarden könnten dem teilweise abhelfen, und wenn nur ein Teil davon den Entwicklungsländern zugute käme, so könnte damit der bereits im Raum stehende Vorwurf entkräftet werden, die Industrieländer widmeten ihre Aufmerksamkeit und finanziellen Ressourcen ausschließlich Osteuropa und der Sowjetunion und vergessen auf die Dritte Welt.

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