7136180-1997_47_14.jpg
Digital In Arbeit

In Gemeinschaft leben lernen

Werbung
Werbung
Werbung

Am 1. November ging es hoch her in der Wiener Sargfabrik. Das Wohnprojekt der besonderen Art feierte seinen ersten Geburtstag. Man tanzte und trank, selbstverständlich waren auch Rollstuhlfahrer mit von der Partie. Jahrelange Planung, eine ambitionierte Gemeinschaft und die junge, einfühlsame Architektur des Baukünstlerkollektivs BKK2 hat die Anlage sogar in die Medien gebracht. Normalfall des Wohnens für Behinderte ist sie nicht.

„Die Familien sind immer noch das tragendste Flement der Behindertenbetreuung”, weiß Wolfgkng Misen-sky, Koordinator der „ARGE Arbeitsgemeinschaft - Wohnplätze für behinderte Menschen in Wien”. „Allerdings auch das unscheinbarste”, fügt er hinzu. Statistische Frfassung gibt es keine, die Zahl derer, die von ihren Fa-milien verpflegt werden, liegt zwischen 1.200 und 1.500. Etwa die Hälfte lebt noch in Heimen. Zur Jahrtausendwende sollen auch sie integriert sein. Vierzehn Organisationen - von der Caritas über die Lebenshilfe bis hin zu kleineren, spezialisierten Vereinen - sind Mitglieder der ARGE, die 1986 gegründet wurde.

Die Erfolgsbilanz kann sich blicken lassen: fast 1.000 integrierte Wohngemeinschaftsgründungen in zehn Jahren. Etwa zehn Personen bilden eine WG. Rund um die Uhr gibt es Betreuer, für die Selbständigeren einer Gruppe erfolgt der erste Schritt in die eigenen vier Wände über eine Trainingswohnung in der Nähe der ursprünglichen WG. Ein Drittel aller Behinderten schafft den Sprung in die Selbständigkeit. 300 mobile Betreuungen in den Finzelwohnungen sorgen dafür, daß der hilfebedürftige Mensch nicht alleingelassen wird. Im Vergleich zur garantierten Rund-um-die-Uhr-Betreu-ung, die in den Heimen den Normalfall bildet, ist das eigenständige Wohnen effizienter und zielgerichteter.

Traurigen Höhepunkt im Umgang mit Behinderten bildete die zum

„Gnadentod” zurechtgelogene Euthanasie in der Nazizeit. Danach war das Krankenhausbett als einzig eigener Raum für viele Behinderte Realität

Der institutionelle Ablauf in großen Gruppen prägt das Leben stark. Man lernt vor allem, sich unterzuordnen. Fjgenes Geld gibt es keines, erst seit kurzem eigene Wäsche. „Nach dieser Versorgungsmentalität werden Lebensbedürfnisse allein durch die Lebenserhaltung gedeckt.” Neue Grundsätze der Behindertenbetreuung sieht Misensky anders: „Je mehr die Umgebung der Normalität entspricht, umso mehr beschäftigen sich die bisher Ausgegrenzten mit Realitäten. Sie werden nicht gesund, aber ihre Lebensumstände werden es.”

Die Zeit der Ghettoisierung in speziellen Heimen ist vorbei. Sogar das Haus der Rarmherzigkeit, Pflegestätte für schwer geistig und mehrfach Rehinderte, beginnt teilweise Patienten in betreute Wohngemeinschaften auszugliedern. „Man darf behinderte Menschen auf der Grundrechtsebene nicht anders ansehen.” Das bedeutet größtmögliche Entscheidungsfreiheit in allen Lebensbereichen. Dabei lernen auch „Normale”. „In Simmering kennt jeder den ,Oberlaaer Kurti'”, ortet Misensky ein „verlängertes Dorftrottelphänomen ” in Wien. Und das ist durchaus als Indiz für mehr Toleranz und Lernfähigkeit der Umgebung zu werten.

Sicherheitsdenken ist beim Versuch, Menschen Leben erfahren zu lassen, fehl am Platz. Präventiv gibt es in Trainingswohnungen keine Gasherde. In Zukunft wird die Zahl der Feste, in denen Behinderte mit Normalen als Mitmenschen ausgelassen und unbeachtet feiern können, hoffentlich steigen. Die Weichen dafür werden von Organisationen wie der ABGE, in die richtige Richtung gestellt. Nachwachsen muß nur noch die Gesellschaft.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung