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Auf jedes Kind individuell eingehen

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Montessori-Schulen, wie sie nun vielfach entstehen, beruhen nicht auf einer eigenen Weltanschauung, aber auf speziellen pädagogischen Prinzipien.

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Montessori-Schulen, wie sie nun vielfach entstehen, beruhen nicht auf einer eigenen Weltanschauung, aber auf speziellen pädagogischen Prinzipien.

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Hilf mir, es selbst zu tun”, und „vom Greifen zum Begreifen” - das sind die Grundsätze, von denen die Montessori-Pädagogik ausgeht. Maria Montessori, die erste Ärztin Italiens, die am 31. August 125 Jahre alt geworden wäre (siehe Kasten), war davon überzeugt, daß Kinder „konkretes Material” brauchen, um zuerst mit ihren Händen die Handlungen zu vollziehen, die ihnen das Verständnis abstrakter Vorgänge ermöglichen. Selbständigkeit und Eigenverantwortung des Kindes sind weitere Postulate eines Ansatzes, der in jüngster Zeit immer mehr Anhänger unter Eltern und Erziehern findet. Erst kürzlich wurde zum Beispiel in Wien ein Montessori-Zentrum eröffnet, das eine Schule, einen Kindergarten (oder Kinderhaus, wie es in der Montessori-Terminologie heißt) sowie ein Ausbildungsinstitut vereint.

Der Alltag in einer Montessori-Schule oder - Klasse sieht etwas anders aus als in einer „Regelschule”. Es gibt keinen „Stundenplan” mit vorgegebenen Inhalten. Getreu dem Grundsatz Maria Montessoris „Wir müssen das Kind führen, indem wir es freilassen”, können die Kinder im Rahmen der sogenannten „Freiarbeit” selbst entscheiden, was sie wann, wo und mit wem sie lernen wollen. In der „vorbereiteten Umgebung”, zu der auch die Person des Lehrers gehört, können die Kinder selbst wählen, welches Spiel-, Lern- oder Arbeitsangebot sie annehmen, wieviel Zeit sie dafür aufwenden und mit wem sie zusammenarbeiten. „Die Absprachen, die sozialen Prozesse, die zur Regelung der Freiarbeit notwendig sind, sind genauso wichtig wie die Arbeit selbst”, meint die Präsidentin der „ Österreich isch en M ontessori -Gesell -schaft”, Saskia Haspel vom Wiener Montessori-Zentrum, und zeigt sich begeistert von der „sozialen und kommunikativen Kompetenz”, die die Kinder dadurch erwerben.

„Material” nimmt Schlüsselstellung ein

„Frontalunterricht” wie in einer „Regelschule”, bei dem allen Kindern zur gleichen Zeit derselbe Lernstoff vorgesetzt wird, ist in einer Montessori-Schule verpönt. Innerhalb der „Freiarbeit „ist es alltäglich, ja selbstverständlich”, daß sich ein Kind zum Beispiel mit Mathematik auseinandersetzt, während andere Lesen oder Schreiben lernen. Auch wird vermieden, die Kinder in irgendeiner Weise unter Druck zu setzen. Jedes Kind erhält zum Erarbeiten eines Stoffgebietes so viel Zeit, wie es benötigt. „Lernen im eigenen Tempo” heißt das Schlagwort. Ganz individuell.

Die „vorbereitete Umgebung” umfaßt nicht nur das bereitgestellte Lernangebot, das „Material”, mit dem sich die Kinder den Lernstoff selbst erarbeiten sollen, sondern ebenso eine entspannte Atmosphäre, die es den Kindern ermöglicht, Vertrauen zu den anderen Kindern zu entwickeln und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben. Die Hauptaufgabe des nehmungsentwicklung und Geschicklichkeit veranlaßten sie schließlich, ihr Modell auch auf „gesunde” Kinder mit Lernschwächen umzusetzen. Tatsächlich scheint die Montessori-Pädagogik für die Integration behinderter Kinder besonders geeignet. Sie gibt jedem Kind die Möglichkeit, sich individuell zu entwickeln und bietet andererseits die Chance für die Kinder, voneinander zu lernen

„Doch gerade dieser wichtige Aspekt wird zunehmend zurückgedrängt. Man kann feststellen daß immer mehr Institutionen, die Montessori in den Vordergrund stellen, kaum Behinderte aufnehmen ”, meint Bernhard Naber, der in einer Wiener „Regelschule” mit Montessori-Elemen-ten unterrichtet. „Die Integration darf nicht verlorengehen”, warnt er. Mit Sorge sieht er auch, daß seiner Meinung nach die Montessori-Schulen mehr und mehr „elitären Charakter” bekommen. Was er damit begründet, daß die Schulen als Privatschulen geführt werden, die ein nicht unbeträchtliches Schulgeld verlangen. „Somit kommt Montessori-Pädagogik nur für diejenigen in Frage, die es sich leisten können”, meint Naber. Die erste öffentliche Montes-sori-Schule wird noch auf sich warten lassen: Von staatlicher Seite gibt es zwar viel Wohlwollen für die „Pädagogik vom Kinde her” (Maria Montessori), aber kaum Geld.

Nicht antiautoritär, sondern „Spielregeln”

Oft kritisieren Skeptiker der Montessori-Pädagogik den ihrer Meinung nach zu großen Freiraum, der den Kindern gelassen wird, und werfen ihr vor, sie sei antiautoritär. Ein Vorwurf, der von den „Montessorianern” aufs heftigste dementiert wird. „Die Freiheit ist nicht grenzenlos”, meint etwa Saskia Haspel. „Es geht nicht darum, daß Kinder tun und lassen können, was sie wollen. Es herrscht in der Gruppe kein Chaos”, sagt sie bestimmt und fügt hinzu: „Montessori-Pädagogik geht davon aus, daß Kinder eine äußere Ordnung brauchen, um zur inneren Ordnung zu gelangen.” So gibt es auch innerhalb der Freiarbeit, in der das Kind individuell entscheiden kann, womit es sich beschäftigen will, eindeutige Rahmenbedingungen oder „Spielregeln”.

Jedes Kind muß das „Material”, mit dem es sich befaßt hat, wieder wegräumen. Dann wissen die anderen Kinder, daß es nun „frei” ist. Der wichtigste Grundsatz lautet freilich: „Wir tun einander nicht weh.” Sanktionen im Sinne einer Bestrafung gibt es keine in einer Montessori-Klasse. Man versucht, alles in „Liebe und Freundschaft” zu regeln. Wichtig für die Vertreter der Montessori-Pädagogik ist weiters, daß diese nicht mit den Anschauungen, auf denen die Waldorfschulen basieren, verwechselt wird. Letztere gehen auf die Überzeugungen des Anthroposophen Rudolf Steiner zurück. Die Montessori-Pädagogik ist dagegen nicht unmittelbar weltanschauungsabhängig.

Die Ideen Maria Montessoris, jedem Kind die Möglichkeit zu geben, abseits vom „Frontalunterricht” im „eigenen Tempo” zu lernen und ein „freudvolles Lernen in entspannter Atmosphäre, Selbständigkeit und Eigenverantwortung zu unterstützen”, scheinen 80 Jahre nach ihrer Entwicklung beliebter zu sein als je zuvor. So gibt es eine „riesige Nachfrage” (Saskia Haspel) nach Plätzen in Montessori-Kindergärten und -Klassen. Gerade Wien ist zu einer Hochburg dieser Erziehungsmethode geworden.

Auch für Montessori-Ausbildung herrscht reges Interesse (siehe Kasten). In Österreich werden die Ideen Maria Montessoris bisher nur in Kindergärten und Volksschulen umgesetzt. Manche „Montessorianer” blicken neidvoll in das benachbarte Ausland, etwa nach Deutschland oder in die Niederlande. Denn dort erobern die Leitsätze „Hilf mir, es selbst zu tun” und „vom Greifen zum Begreifen” bereits die weiterführenden Schulen.

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